consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #64 - 17.10.2025
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen
Axel Enninger: Mein Gast heute ist
Dr. Thomas Lempp
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.Kardiologie in der pädiatrischen Praxis
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium – dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gesprächspartner ist Dr. Thomas Lempp. Er ist nicht Kinder- und Jugendarzt, aber er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ‑psychotherapie. Er ist Kinderschutzmediziner und er ist Chefarzt der Psychosomatik am Clementine Kinderhospital Frankfurt, „Clemi“ genannt. Olgahospital Stuttgart – „Olgäle“, Clementine – „Clemi“. Und er ist Mitglied der S3-Leitlinien-Kommission „Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ und genau auch das ist unser Thema. Herzlich willkommen, lieber Herr Lempp.
Thomas Lempp: Vielen Dank. Danke für die Einladung.
Axel Enninger: Sie haben eine sehr spezielle Sprechstunde, und in dieser Sprechstunde sehen Sie als einer der wenigen Spezialisten in Deutschland Kinder, die sich – und ich sage es jetzt vielleicht politisch unkorrekt, in Anführungszeichen „trans“ fühlen. Wie heißt denn Ihre Sprechstunde genau und was für Kinder und Jugendliche sehen Sie dort?
Thomas Lempp: Wir haben uns natürlich lange überlegt, wie diese Sprechstunde heißen soll. Wir wollen da niemandem auf den Schlips treten und gleichzeitig wollen wir sie öffnen, weil es sehr variable Menschen sind, sehr unterschiedliche Menschen, die da herkommen. Deswegen haben wir uns zumindest vorläufig auf die Idee geeinigt, dass die Sprechstunde heißt: „Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung des Kindes- und Jugendalters“.
Axel Enninger: Okay. Sie sprechen es schon an und in meiner Einleitungsfrage haben Sie auch bei mir schon eine gewisse Unsicherheit gemerkt. Das Thema ist ja emotional sehr besetzt und auch viele Begriffe sind sehr besetzt. Was wären denn aus Ihrer Sicht Begriffe, die man anwenden kann, die den Patientinnen und Patienten angemessen sind, aber nicht irgendwie stigmatisierend sind? Was würden Sie denn vorschlagen?
Klar definierte Begriffe „Geschlechtsdysphorie“ und „Geschlechtsinkongruenz“
Thomas Lempp: Also ich denke, es braucht zwei Kriterien: Mit den Begriffen sollen wir nicht mehr Leid schaffen, das wollen wir ja nicht, wir wollen ja Leid mindern als Ärzte. Und das zweite Kriterium ist, dass wir Begriffe brauchen, die eine Definition haben, die wissenschaftlich klar definiert sind. Über was reden wir überhaupt? Sonst können wir es auch nicht vergleichen, wir können nicht damit forschen. Und da haben sich in den letzten Jahren zwei Begriffe herauskristallisiert, die beide nicht leicht auszusprechen sind. Aber es lohnt sich, sie zu lernen. Das eine ist die „Geschlechtsdysphorie“, das Leiden an dem Körpergeschlecht. Das haben die Amerikaner erfunden, ich halte das für einen sehr guten Begriff. Und das andere ist der Begriff „Geschlechtsinkongruenz“, ein Zungenbrecher, den die WHO entwickelt hat, an den wir uns werden gewöhnen müssen. Wenn die ICD-11 nun endlich da ist, wird das der gängige Begriff werden, mit dem wir diese Patienten titulieren. Also ich propagiere die beiden Begriffe „Geschlechtsdysphorie“ und „Geschlechtsinkongruenz“.
Axel Enninger: Okay, so haben wir die Folge ja auch genannt, WHO-konform. Jetzt haben Sie eine Sprechstunde aufgemacht. Ist das der medialen Aufmerksamkeit geschuldet und haben Sie gedacht, das ist gut, damit kommen wir in die Zeitung? Oder gibt es da ein echtes Medical Need? Gibt es viele Patienten, die aus medizinisch sinnvollen und auch nachvollziehbaren Gründen zu Ihnen kommen?
Eine Sprechstunde, die es schon lange gibt
Thomas Lempp: Also, ich bin ein Zwerg auf der Schulter von Riesen. Ich habe diese Sprechstunde nicht aufgemacht, die gibt es in Frankfurt seit den 80er Jahren. Es ist die älteste Sprechstunde in Deutschland für Kinder und Jugendliche mit veränderter Geschlechtswahrnehmung. Und die habe ich „geerbt“ und fühle mich geehrt, dass ich die Arbeit mit meinen Kollegen weitertragen kann. Ob es da einen Need gibt, würde ich mit Vehemenz beantworten: Auf jeden Fall gibt es da einen Need, und den gibt es schon die ganze Zeit, den gibt es unabhängig davon, wie hoch das Medienecho gerade ist. Aber ich war natürlich sehr verwundert, als in den letzten Jahren die Anfragen von Journalisten zu diesem wirklich ja sehr kleinen Bereich meines Fachgebietes so enorm zugenommen haben. Aber die Sprechstunde gab es auch schon vorher und die wird es auch weiterhin geben, wenn dieses Thema vielleicht – und das wünsche ich mir auch wieder ein bisschen – in die Ecke gerückt ist, wo es hingehört und wir wieder alle ein bisschen nüchterner darüber sprechen. Dann wird es weiterhin diese Sprechstunde geben, weil es sie braucht, und es braucht auch noch ein paar mehr in Deutschland. Die gibt es glücklicherweise auch.
Axel Enninger: Mein Eindruck ist, dass zum Zeitpunkt jetzt, Mitte 2025, der mediale Hype und die Aufregung auch schon so ein bisschen sinken. Oder ist das falsch?
Thomas Lempp: Ich habe es schon ein paar Mal gedacht, dass es jetzt nachlässt und wir uns wieder über andere Themen unterhalten können. Deswegen will ich es nicht zu vorschnell sagen, aber es wäre natürlich schön. Wir haben ja im März 2025, vor vier Monaten, nun die Leitlinie veröffentlicht und tatsächlich gab es noch einmal ein Rauschen im Blätterwald. Nun ist es leiser geworden und es wäre doch auch sehr schön, wenn wir einfach mal gucken, ob die Leitlinie uns für die nächsten Jahre nicht ganz gut helfen kann, gute Medizin zu machen, gute Therapien zu machen, den Leuten zu helfen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass es noch mal Aufregung gibt. Das Thema scheint eben zu emotionalisieren und nicht nur in der breiten Bevölkerung, sondern auch in der Fachwelt, was ich besonders traurig finde, weil es eben dazu führt, dass die Patienten und die Eltern das Gefühl haben, wir wären uns gar nicht einig und in der Fachwelt wäre es so sehr umstritten, was es, glaube ich, gar nicht so arg ist.
Leitlinie mit breitem Konsensus
Axel Enninger: Jetzt ist Leitlinienarbeit ja etwas Zähes, etwas Anstrengendes. Jeder, der schon einmal in einer Kommission gesessen hat, weiß, wie kompliziert diese Abstimmungsverfahren und Bewertungsverfahren sind. War es denn besonders kontrovers in Ihrer Gruppe?
Thomas Lempp: Nun war ich bisher in meinem Leben nur in dieser einen Gruppe. Das waren aber sieben Jahre meines Lebens, die nun glücklicherweise zu Ende gegangen sind. Ich weiß aber von Kollegen, die in anderen Leitliniengruppen saßen, dass es deutlich weniger emotional zugeht. Ja, das war schon beträchtlich. Ich denke, Corona hat uns geholfen, wir haben dann auf online umgestellt und wurden dann etwas zielorientierter. Aber, um mal einfach ein bisschen Werbung zu machen: Es ist schon gelungen, 26 medizinische Fachgesellschaften zu sehr hohen Konsensus zu bringen und auch zwei Betroffenenverbände mit einzubeziehen, was ich bei dem Thema – und sowieso in der Medizin – absolut wichtig finde. Und dafür ist das Ergebnis gar nicht schlecht geworden. Es gibt sicher noch einiges zu verbessern, aber da gibt es ja auch zukünftig wieder die Möglichkeit. Aber das ist schon ein sehr breiter Konsens, auf den wir uns da einigen konnten.
Axel Enninger: Sehr schön. Jetzt habe ich sie nur überflogen. Wie viele Seiten hat sie? Ist sie lesbar?
Thomas Lempp: Na ja, die Kurzversion ist lesbar. Die ist jetzt zum Glück auch online. Ansonsten ist sie wie all diese Leitlinien der letzten Jahre wirklich kaum lesbar geworden, was ich sehr bedauere. Es geht ja nicht nur darum, diese Leitlinien für die paar wenigen zu schreiben, die sowieso in dem Fach sind, weil die in der Regel ja wissen, was drinsteht, sondern eigentlich wollen wir das ja auch für die Niedergelassenen im Odenwald, der Schwäbischen Alb und der Uckermark schreiben. Die haben eben einfach nicht so viel Zeit und wollen sich schnell orientieren, und da ist jetzt, glaube ich, die Kurzversion gut lesbar.
Axel Enninger: Okay. Tatsächlich ein echtes Problem, wenn man die ein oder andere Leitlinie sieht. Also, wieso soll ich jetzt 120 Seiten lesen? Ich weiß gar nicht, wie lange Ihre ist, aber…
Thomas Lempp: Über 400, es sind über 400 Seiten.
Axel Enninger: Okay, also gut. Was ja in Leitlinien oft hilft, sind Algorithmen. Jetzt ist in Ihrer Leitlinie gar kein Algorithmus. Warum ist das so?
Sorgfalt statt Algorithmus
Thomas Lempp: Ja, da haben wir, glaube ich, gelernt, dass wir mit den Algorithmen in diesem Feld der Medizin und der Psychotherapie wirklich schlecht bedient sind. So sehr ich ja Kitteltaschenbücher mag, ich habe auch eins geschrieben, aber ich glaube, in diesem Bereich sollten wir uns von all diesen Ideen mit Entscheidungsbäumen befreien, weil die Individualität zu hoch ist zwischen diesen Patienten. Also selbst ein Patient, der die Diagnose Geschlechtsdysphorie erhält, ist eben ein ganz besonderer Mensch, den wir uns sehr, sehr gut angucken müssen. Sehr sorgfältig angucken müssen. Die ganze Leitlinie ist ein Plädoyer, Sorgfalt walten zu lassen, und aus dieser Sorgfalt kommen sehr individuelle Verläufe heraus. Was dem Patienten A hilft, hilft eventuell dem Patienten B nicht. Das hat man früher anders gesehen. Bis in die 80er, 90er Jahren hat man den Patienten ganz lange nicht geglaubt, dass sie sich so fühlen, hat verschiedene Methoden gehabt, um das zu überprüfen und zu hinterfragen, auch teilweise bis zu kriminalistischer Ermittlung, warum jemand nicht „trans“ sein kann. Und wenn man es ihnen dann aber geglaubt hat, dann hat man sozusagen so ein Stufenmodell gehabt: Die bekamen dann irgendwie alle Blocker und dann bekamen die alle geschlechtsangleichende Hormone und nach zwei Jahren bekamen sie alle eine OP. Und da wurden viele Leute operiert, die im Nachhinein gesagt haben, das wäre bei mir gar nicht notwendig gewesen. Das heißt, wir müssen uns tatsächlich die Mühe machen, jeden einzelnen Einzelfall anzuschauen, und das ist mühevolle Medizin. Es ist aber auch schöne Medizin und die braucht Zeit. Aber ich glaube, die Entscheidungen, die da getroffen werden, sind eben extrem weitreichend im Leben, möglicherweise verändern sie das komplette Leben, und da können wir uns nicht auf Algorithmen verlassen.
Axel Enninger: Okay, also eine bewusste Entscheidung gegen Algorithmen. Jetzt geben Sie uns doch vielleicht mal so einen kleinen Einblick in Ihren Alltag. Also, meine Vorstellung ist, dass Sie sich vorwiegend mit Teenagern beschäftigen, oder stimmt das gar nicht?
Thomas Lempp: Also die meisten, die zu uns kommen, sind Teenager, aber die Sprechstunde beginnt so im Alter von 3–4 Jahren, da kommen Patienten zu uns, natürlich nicht allein, und dann bis zum Alter von 17–18 Jahren kommen Patienten zu uns. Es kommen mehr Leute im Teenageralter, und das ist auch schon natürlich ein Charakteristikum, warum wir als Kinder- und Jugendexperten da gefragt sind, denn die körperliche Reifeentwicklung, die ein Teenager erwischt und ein Kind eben nicht, ist das Entscheidende, das bei diesen Betroffenen das Leid erzeugt. Ich fühle mich eben nicht männlich oder nicht weiblich und blicke jeden Tag angstvoll in den Spiegel und hab furchtbar Angst, was da passiert oder passieren könnte. Und diese pubertäre Entwicklung, die Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinder- und Jugendärzten sehr gut bekannt ist, kann immenses Leid schaffen. Dafür sind wir auch verantwortlich. Wer, wenn nicht wir? Auf der anderen Seite bietet uns der medizinische Fortschritt natürlich Möglichkeiten, wenn wir uns denn diagnostisch sicher sind, in diese Entwicklung einzugreifen. Wir können möglicherweise ein Brustwachstum stoppen, damit man später überhaupt keine Mastektomie mehr braucht. Das ist natürlich sehr elegant, aber es benötigt eben viel Sorgfalt, genaues Hinschauen, gute Entscheidungsfindung mit allen Beteiligten zusammen, interdisziplinäre Arbeit. Das kann die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch nicht allein. Da brauchen wir gute pädiatrische Endokrinologen, die es zum Glück gibt. Wir müssen eng zusammenstehen, und dann können wir in die Pubertät eingreifen und Großartiges tun, aber auf der anderen Seite haben wir eben die Pubertät, die Leid schafft und deswegen treibt die Pubertät viele Menschen zu uns, die sagen: ‚Ich halte meine Menstruation nicht aus.‘ ‚Ich habe furchtbare Angst, dass ich in den Stimmbruch komme.‘ ‚Ich gehe nicht ins Schwimmbad.‘ ‚Ich tape mir meine Brust mit irgendwelchem Tape aus dem Baumarkt, weil ich es einfach nicht mehr aushalte.‘ ‚Ich leide höllisch unter meinem Körper.‘ Das treibt viele Menschen in unsere Sprechstunde.
Frank fühlt sich wie Franka und will auch so in die Schule
Axel Enninger: Okay. Lassen Sie uns mal kurz eine kleine Klammer aufmachen, weil ich überrascht war, dass Sie gesagt haben, da kommen auch ganz Kleine. Zu den Teenagern kommen wir gleich noch mal zurück. Also jetzt fehlt mir vielleicht meine Fantasie. Sie haben gesagt, da kommen 4–5-Jährige zu Ihnen in die Sprechstunde. Kurzer Einblick: Wie passiert es, was findet da zu Hause statt, also was ist das Thema?
Thomas Lempp: Das Thema sind meistens sehr überforderte, überraschte Eltern, die uns Kinder im Kindergartenalter vorstellen, die sagen, sie sind mit einem Penis zur Welt gekommen und wollen nun unbedingt mit Kleidchen in den Kindergarten gehen. Sie wollen einen anderen Namen, sie sagen, sie sind ein Mädchen, häufig in dem Alter. Sie sagen sie nicht: ‚Ich will eines sein‘, sondern: ‚Ich bin eines.‘
Axel Enninger: Noch mal: mit 5?
Thomas Lempp: Mit 5. Sie sehen auch oft so aus. Die MFAs sind oft überrascht, wer da so im Wartezimmer sitzt – die Diskrepanz zur Krankenkassenkarte. Sie kommen rein und schwärmen für Seejungfrauen und andere Dinge und sagen eben: ‚Ich bin die Franka‘, und auf der Krankenkassenkarte steht Frank. Das sind oft völlig gesunde Menschen, in den seltensten Fällen finden wir da eine psychische Erkrankung. Das sind völlig vernünftige Eltern, die haben zwei, drei andere Kinder, die verstehen die Welt nicht mehr. Die Eltern sind sehr frustriert, bekommen sehr viele Ratschläge von allen möglichen Leuten. Ratschläge sind Schläge, das kennen wir alle. Die stehen da irgendwie in der Unsicherheit. Oft denkt der Papa ein bisschen anders darüber als die Mama, und die Frage ist: Wie melden wir das Kind in der Schule an? Was sollen wir dem Kind erlauben? Wie gehen wir mit den Nachbarn um? Die Oma hat gesagt, es liegt alles daran… Sie brauchen einfach Begleitung und Beratung. Das ist beeindruckend, diese Fälle zu sehen, weil, wenn man so etwas mal häufiger gesehen hat, dann kann man nicht mehr behaupten, das sei irgendein TikTok-Phänomen, dem Jugendliche nacheifern würden. Und ehrlich gesagt, mir zeigen diese eindeutigen Verläufe, die sich teilweise sehr, sehr früh vorstellen, dass es da auch etwas Biologisches geben muss. Das kann nicht rein psychosozial sein, sondern da gibt es Verläufe, von denen wir gar nicht wissen, wie sie weitergehen. Wir begleiten sie dann.
Axel Enninger: Aber das wäre jetzt meine nächste Frage: Also Franka fühlt sich wie Frank und will auch so in die Schule gehen. Und das begleiten Sie dann, und das ist Ihre wesentliche Aufgabe erst einmal. Begleitung und dann mal gucken, dass die Familie damit so klarkommt, dass es gut geht?
Frühkindliche Fälle gut begleiten
Thomas Lempp: Genau. Das Erste, was ich den Eltern sage, ist: ‚Lesen Sie bitte keine Ratgeber dazu. Beschäftigen Sie sich nicht mit Blockern, Hormonen und Operation, das steht überhaupt nicht an.‘ Und dann bestellen wir sie einmal im Jahr zu uns. Das ist ein bisschen Präventionsmedizin, vielleicht ein bisschen wie U-Untersuchungen bei Niedergelassenen. Ich schaue sie mir an, gucke, dass das Thema nicht zu groß wird in den Familien, dass die normalen Entwicklungsschritte bewältigt werden, mache mein Brot- und Buttergeschäft, schaue nach gesunder Entwicklung, schaue, dass sie sich sozial gut integrieren, dass der Kindergarten gut mitmacht und versuche, mit den Eltern gute Lösungen zu finden, was man da machen kann. Das ist mehr eine Wächterfunktion, eine präventive Aufgabe. Präventionsmedizin ist schöne Medizin, das mache ich gerne. Und dann schauen wir sie uns an über viele Jahre und interessieren uns eben vor allem für die beginnende Pubertätsentwicklung, die dann Jahre später einsetzt, und bis dahin ist alles offen. Also da kennen wir dann Patienten, die plötzlich nicht mehr kommen, weil sich alles erledigt hat. Und Patienten, die sich zunehmend Sorgen machen oder die diskriminiert werden oder die von der katholischen Kirche nicht zur Kommunion zugelassen werden oder all solche Dinge, wo wir dann versuchen, ihnen eine glückliche Kindheit zu bescheren.
Im Teenageralter noch genauer hinsehen
Axel Enninger: Okay, das heißt, die Verläufe sind so variabel, dass man jetzt weder sagen kann: ‚Na ja, ist eine Phase, gibt sich schon wieder‘, oder: ‚Das wird jetzt auf alle Fälle so.‘ Das heißt, Sie sagen: begleiten, gucken, dass der Alltag gut wird, dass die Entwicklung gut wird. Und dann, wenn es Richtung Pubertät geht, wird es natürlich sozusagen spannend. Und das leitet uns vielleicht auch wieder zurück zu den Teenagern, wo Sie gesagt haben: ‚Ja, da müssen wir tatsächlich genau hingucken.‘ Also dann: Krankenkassenkarte sagt „Frank“, und da kommt jemand und stellt sich als „Franka“ vor und hat sich auch so angezogen, hat sich geschminkt, hat viele Attribute, die man einer Frau zuschreiben würde. Und dann sitzt er da bei Ihnen. Und was dann?
Thomas Lempp: Also, im besten Fall kenne ich dann diesen Patienten schon lange Zeit. Wir sind sozusagen zusammen so ein bisschen größer geworden. Ich habe mir die Entwicklung über die letzten Jahre angeschaut und möchte dann, wenn sie jetzt gerade ein biologisch männliches Wesen haben, das in einer weiblichen Rolle lebt, mit Pubertätsbeginn engmaschiger einbestellen. Was in diesem Fall besonders wichtig wäre, wäre zu untersuchen, ob die beginnende Pubertätsentwicklung ein Leid erzeugt. Ob das weiter persistiert, das heißt, haben wir einen persistance case, der ins Jugendalter hineingeht? Dann wäre es meine absolut wichtige Aufgabe aufzupassen, dass wir möglicherweise diesen Stimmbruch verhindern. Das ist jetzt ein Spezialfall, weil wenn wir das nicht machen, haben wir möglicherweise lebenslang ein vermindertes Passing. Das bedeutet, diese Franka wird, wenn sie in den Stimmbruch kommt, möglicherweise ihr ganzes Leben lang am Telefon, im Podcast, wo sie immer sitzt, als Mann wahrgenommen werden, und das macht es ihr sehr schwer. Das heißt, hier könnten wir dann gut diskutieren, ob es sinnvoll wäre, diesen Stimmbruch erstmal hinauszuzögern.
Axel Enninger: Das habe ich kapiert, dass sozusagen in dem Moment, wo Pubertätsentwicklung ansteht und wo dann auch äußerlich sichtbar und spürbar quasi die Identität „Junge / Mädchen“ wird, dass das schwierig ist und dass Sie da sagen, da müssen wir aufpassen, dass es nicht alles noch komplizierter wird. Und das haben Sie vorhin schon gesagt, da haben wir möglicherweise Medikamente, die uns helfen. Das war ja, wenn ich es richtig verfolgt habe, einer der ganz großen Knack- und Kritikpunkte. Man sagte: ‚Da gibt es Ärzte, die allen Ernstes diesen Menschen Hormone geben. Das ist ein tiefer Eingriff in die Entwicklung, und das kann man doch gar nicht machen!‘
„Pausentaste“, die Zeit verschafft
Thomas Lempp: Diesen Ärzten halte ich entgegen, dass man in der Medizin grundsätzlich nicht sagen kann, das kann man gar nicht machen. Ich glaube, wir sind einfach als Dogmatiker nicht gut bedient, das würden doch wahrscheinlich die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen unterschreiben. Die Kollegen haben Recht, dass es ein sehr schwerwiegender Eingriff ist und dass der gut überlegt sein muss. Aber die Möglichkeit, die eben jetzt besteht, ist die Gabe von GnRH-Analoga, das kennen wir aus der Pubertas-praecox-Behandlung. Indem wir diese Pubertät sozusagen auf eine Art Pausentaste setzen, können wir erst einmal Zeit gewinnen und sagen, die Pubertät, die ja möglicherweise in die falsche Richtung kommt, halten wir erst einmal auf. Das ethische Dilemma ist Fürsorge und Autonomie, und in diesem Dilemma befinden wir uns. Wir müssen sehr gut aufpassen, dass wir nicht voreilig algorithmisch irgendeine Entscheidung treffen und sagen: ‚Ja klar, du kommst jetzt in die Pubertät, wir geben dir jetzt Pubertätsblocker.‘ Das wäre schlechte Medizin. Und wir müssen aber eben auch aufpassen, dass wir es nicht kategorisch ausschließen und sagen: ‚Dieses junge Kind kann überhaupt keine Äußerungen dieser Art machen und das junge Kind versteht das alles gar nicht. Es ist beeinflusst von Eltern und sozialen Medien‘, und wir sprechen dem Kind sozusagen diese Äußerung ab. Das wäre die andere Richtung, in die wir nicht kippen dürfen. In dieser Balance brauchen wir einen Mittelweg. Und der gelingt uns natürlich sehr gut, wenn wir die Familien schon so lange kennen. Also, wenn Kinderärzte diesen Podcast hören, Kinderärztinnen, und die haben diese Familien, sehen sie im Kindesalter und schicken sie in die Spezialambulanz, können wir in der Regel mit den Familien, mit denen wir schon so lange gearbeitet haben, sehr gut herausfinden, was da mit beginnender Pubertätsentwicklung passiert und auch gemeinsam gute Entscheidungen treffen. Das sieht natürlich anders aus, wenn die Familie kommt und der Patient ist 16 und sagt: ‚Ich brauche jetzt Hormone, sonst bringe ich mich um und alles ist zu spät‘, und ‚ich kann beweisen, dass es früher auch schon so war.‘ Das sind die schwierigeren Fälle. Aber diese früh beginnenden Fälle, die gut dokumentiert sind, wo vielleicht der niedergelassene Kinderarzt auch schon mal notiert oder angerufen hat und gesagt hat: ‚Es ist tatsächlich so, ich sehe dieses Kind immer als Mädchen‘, das kann später sehr hilfreich sein. Dass wir diese schwierige Entscheidung – das ist mir sehr wichtig – es ist eine schwierige Entscheidung im Einzelfall, es ist eine invasive, in dem Fall aber reversible Entscheidung, wir sind jetzt bei den Blockern, dass wir die wohlüberlegt nach sorgfältiger Abwägung treffen, und in der Regel gelingt uns das auch ganz gut.
Axel Enninger: Okay, nur noch mal, dass ich es richtig verstehe: Sie sagen, einer der wesentlichen Knackpunkte ist, wenn der biologische Frank, fühlt sich als Franka, in den Stimmbruch kommt, Bartwuchs bekommt, das ist sozusagen schwierig, und da sagen Sie, da können uns Medikamente helfen, das möglicherweise nach hinten zu schieben. Wir begleiten diesen Menschen dann so, dass eine Entscheidung – so oder so – besser zu treffen ist. Habe ich das so richtig zusammengefasst?
Thomas Lempp: Wir schaffen uns Zeit. Wir schaffen uns Zeit, die ist begrenzt. Der pädiatrische Endokrinologe tritt mir auf die Füße und sagt: ‚Jetzt brauchen wir aber bald mal eine Entscheidung.‘ Da geht es um Knochendichte, das ist ja die Hauptnebenwirkung dieser GnRH-Analoga. Wir stellen ja sozusagen eine Art Wechseljahre-Situation her. Die Knochendichte, die Spongiosa-Dichte wird dünner und das ist auch reversibel, aber nicht unbegrenzt. Deswegen gibt es einen gewissen Zeitdruck. Das heißt, wir müssen die Zeit auch nutzen. Wir können nicht einfach sagen, wir warten jetzt noch mal. Aber, wenn Sie sich vorstellen, ein Patient mit 11, 12, der im Tanner-Stadium 2 diese Blocker erhält, kann natürlich, wenn man ihn gut begleitet, zwei Jahre später enorm viel mehr über sich selbst reflektieren. Das ist ja eine immense Dynamik, eine immense Gehirnentwicklung, die in der Zeit stattfindet. Insofern geben uns diese Blocker hier wirklich ein Zeitfenster für die möglicherweise anstehende irreversible Entscheidung, die dann kommen wird, über die wir gleich sprechen können. Und die Patienten haben einfach nicht mehr so viel Angst. Sie haben die Gewissheit: Mein Körper verändert sich jetzt erstmal nicht. Ich muss nicht so viel Angst haben vor Menstruationsblutung, vor dem Bartwuchs, vor Stimmbruch ganz besonders. Den betone ich, weil er eben nicht reversibel ist. Bart können Sie später epilieren, das können Sie alles machen. Aber aus der Stimme – da können HNO-Ärzte zwar irgendwas basteln, aber ich sage Ihnen, meine Erfahrung ist, Sie kriegen diesen Stimmbruch nicht mehr raus. Wenn der einmal durch ist, dann ist es gelaufen.
Axel Enninger: Okay, jetzt haben Sie ja gesagt, wir gewinnen Zeit. Wie nutzen Sie diese Zeit? Was machen Sie dann mit ihnen?
Psychotherapeutische Anbindung: welche Rollenbilder, was lässt leiden?
Thomas Lempp: Diese Zeit wird dann so verlaufen, dass die Patienten nicht nur einmal im Jahr von uns gesehen werden. Wir überlassen sie nicht sich selbst, sondern wir machen eine engere Anbindung, beispielsweise an unsere Sprechstunde oder auch an niedergelassene Psychotherapeuten. Diese reflektieren dann mit ihnen, was da eigentlich für ein soziales Rollenbild dahintersteckt. Was begreift der Mensch eigentlich als Mann oder Frau? Was erzeugt da eigentlich Leid? Ist das wirklich körperbezogen oder ist das eher sozial gedacht? Passt man nicht so in die Rollenzuschreibungen hinein? Dann würden wir eher diagnostisch an etwas anderes denken. Oder leidet der Mensch wirklich essenziell unter seiner körperlichen Veränderung? Dann schauen wir uns das natürlich diagnostisch sehr, sehr gut an. Spätestens dort schauen wir ganz genau, könnten wir es uns auch irgendwie anders erklären? Das Wort „Differentialdiagnostik“ ist vielleicht zu hoch gegriffen, aber finden wir mögliche anderen Erklärungsmodelle, warum sich dieser Mensch so fühlen könnte.
Axel Enninger: Sagen Sie mal ein Beispiel.
Thomas Lempp: Am tückischsten sind eigentlich beginnende Persönlichkeitsstörungen, die wir auch alle kennen. Ich glaube, dieses Bild kennen auch viele Leute in der Pädiatrie. Das sind Menschen, die uns emotional extrem instabil erscheinen, die sich selbst verletzen, die psychotrope Substanzen probieren noch und nöcher, und die sich in ihrer Selbstfindung gerade irgendwo verloren haben, und sich möglicherweise temporär auch mal als trans und queer ausprobieren. Die Fälle müssen wir natürlich klar von denen trennen, bei denen es tiefgreifend, zeitlich anhaltend und situativ durchgängig ist und bei denen es wirklich einen großen Leidensdruck erweckt. Ich will noch mal auf den Leidensdruck hinaus, weil die Menschen, die sich in verschiedenen Rollen ausprobieren, in der Regel nicht so ein hohes Leid haben. Sie probieren sich aus und komprimieren dann auch mal ihre Brust. Aber dieses Leid, das in unserer Sprechstunde ist, ist doch extrem beeindruckend und kann eigentlich auch nicht durch eine gängige andere psychische Erkrankung erklärt werden. Wir haben keine wirklich heftigen Differentialdiagnosen, aber diese Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, so will ich das mal vorsichtig nennen, die machen uns zu schaffen. Dann müssen wir natürlich sowieso gucken, wie es dem Patienten psychisch geht, wobei die Hälfte der Patienten, die wir sehen, völlig gesund ist. Sie haben überhaupt nichts.
Axel Enninger: Jetzt machen wir da noch mal weiter. Also der biologische Frank fühlt sich als Franka, hat jetzt von Ihnen ein Medikament bekommen. Man gewinnt Zeit und kommt gemeinsam Schritt für Schritt zu dem Punkt: Franka fühlt sich als Franka, möchte gerne als Franka leben. Wie geht es dann konkret weiter?
Alltagserprobung, 24-Hour Real Life Experience
Thomas Lempp: Der große Unterschied in der Indikationsstellung zwischen diesen Blockern, reversibel, und den geschlechtsangleichenden Hormonen, irreversibel, ist die Alltagserprobung. Der Goldstandard der Diagnostik heißt: Mädchen oder Junge, probier dieses Leben vollständig aus! In einem Arztzimmer, in einem Untersuchungszimmer können wir uns alles Mögliche herbei-idealisieren. Das kennen wir alles von Jugendlichen: ‚Wenn ich erst mal…, dann…‘ und ‚Ich geh ich wieder in die Schule, wenn …‘, und so, das kennen wir alles. ‚Ich nehme dieses Medikament aber erst, wenn …‘ irgendwie die Mama kein Sorgerecht mehr hat oder so. Entscheidend ist wirklich die 24-Hour Real Life Experience. Ist das Leben, das gewünschte Leben jetzt als Franka, nehmen wir mal diesen Fall, einerseits wirklich das, was dann potenziell lebenslang gelebt werden soll? Das sollten wir doch vorher mal ausprobieren, und zwar in allen Lebensbereichen und ja nicht nur online. Und zweitens: Ist es auch lebbar? Gibt es überhaupt an diesem Ort, an dem dieser Mensch lebt, in der Schule, in dem Verein, in der Familie, sozusagen den „Empfangsraum“ für dieses vorgestellte Leben? Das müssen wir ausprobieren, und das ist die Alltagserprobung, für die wir in der Kinder- und Jugendleitlinie ein sehr, sehr starkes Veto gelegt haben. Bei den Erwachsenen ist es anders, da wird es auch als stigmatisierend erlebt, und da hat man sich anders entschieden. Aber bei Kindern und Jugendlichen bin ich sehr froh, ich war ein großer Befürworter, dass man sozusagen diesen Gedanken auf die Füße stellt und sagt, komm, wir probieren das jetzt mal aus.
Axel Enninger: Und da reden wir … Sie haben vorhin mal 24 Stunden gesagt, über welchen Zeitraum reden wir da?
Thomas Lempp: Früher hatte man sich gerne an festen Zeiträumen orientiert und gesagt, 12 Monate muss man in der neuen Rolle leben und hinterher bestimmte psychotherapeutische Termine wahrnehmen. Das ist mir aber alles zu formal und zu algorithmisch, der eine braucht länger, der andere weniger lang. Pi mal Daumen leben die Patienten, die bei uns vor der Indikationsstellung stehen für geschlechtsangleichende Hormone, ich nehme jetzt wirklich Testosteron, ich nehme Östrogenen und meistens auch Antiandrogenen dazu, die leben meist über ein Jahr in dieser Rolle. Diese Rolle ist auch reflektiert, es sind auch Diskriminierungserfahrungen reflektiert. Es ist ja auch nicht so einfach, in dieser Rolle zu leben. Die allermeisten wünschten sich, es wär anders. Es ist auch nicht hip, es ist gar nicht toll dauerhaft, ständig überlegen zu müssen, auf welche Toilette man geht. Wie mache ich es im Schullandheim, wie krieg ich das hin und wie erklär ich‘s, wenn ich mich in jemanden verliebe? Wann sage ich ihm, dass ich eigentlich gar nicht das in der Hose hab, was der andere erwartet? Schwieriges Leben, aber genau da müssen wir hin. Wir müssen auf die Handlungsebene in den Alltag, und dort erleben meist der Patient, die Eltern und auch ich als behandelnder Arzt oder Mitbehandelnder eigentlich, ob das passt oder nicht. Also diese Alltagserprobung ist essenziell. Wenn die nun ein sehr positives Ergebnis zeigt und die Menschen merken, es tut ihm gut über Monate, er lebt wirklich ein angenehmeres Leben, er kann mehr am Leben teilnehmen, das ist wirklich mehr sein Ding, dann müssen wir über die Frage nachdenken, von den Jugendlichen natürlich sehr gedrängt und gewünscht: ‚Wann geht es endlich los, Herr Doktor, wann bekomme ich Testo?‘ Oder die Franka würde sich nun wünschen, dass sie Östrogene bekommt.
Axel Enninger: Das ist ja ein Riesending. Also die Vorstellung, dass da tatsächlich jemand so sehr in die Erprobung geht und sagt: ‚Ich lebe jetzt mal ein Jahr als Mädchen, bin biologisch Junge,‘ das ist ja enorm. Ich stelle mir das irre vor. Wie oft kommt es denn vor, dass in dieser Alltagserprobung jemand sagt: ‚Nee, das ist doch nicht meins‘? Wie ist denn da so die Quote? Wie oft sagt denn jemand: ‚Ah gut, dass wir das mal gemacht haben mit der Alltagserprobung. Nee, geht nicht‘?
Thomas Lempp: Es ist immer schwer, da gute Quoten zu nennen, weil die Patienten, die ich sehe, eine Auslese sind. In der Spezialambulanz hat man immer einen Bias, man sieht die Fälle, die schon monatelang auf einen Erstvorstellungstermin bei uns gewartet haben. Die wollen das sehr. Da sind natürlich viele temporäre Fälle nicht dabei, aber ich erlebe das durchaus in, sagen wir mal, in zwischen 10 und 20 % der Fälle, dass ich in der Alltagserprobung – jetzt sagen wir mal nicht das vollkommene Zurückkehren zum Geburtsgeschlecht sehe, das erlebe ich wirklich kaum, sondern meistens erlebe ich Menschen, die dann plötzlich sagen: ‚Ach, das mit den Hormonen ist, glaube ich, gar nicht so notwendig.‘ Die nennen sich dann vielleicht non-binär, oder demi-boy oder liquid gender. Da sind wir wieder bei etwas undefinierten Begriffen und Selbstzuschreibungen. Das lasse ich mir immer erklären: ‚Was soll das denn bedeuten?‘ Und dann sagen sie mir, dass sie irgendwo dazwischen stehen und gewisse Dinge vielleicht gar nicht benötigen. Das haben sie aber in der Regel in der sozialen Auseinandersetzung im Sportverein, in der Schule auf dem Pausenhof herausgefunden, wo sie da ihre Geschlechtsidentität verorten. Das erleben wir immer wieder, und wir erleben auch immer wieder Jugendliche, die sagen, wir sind überrascht, wie gut es auch akzeptiert wird, insbesondere von anderen Jugendlichen. In der Regel sind es die Erwachsenen, die damit ein Problem haben, die anderen Jugendlichen sind oft erstaunlich solidarisch. Aber ich erlebe natürlich auch Patienten aus dem ländlichen Raum, die sagen: ‚Ich kann dieses Leben nicht leben.‘ Oder: ‚Mein Vater akzeptiert es nicht‘ oder: ‚Meine Lehrer in dieser Schule können nicht damit leben‘. Dann müssen wir natürlich gut aufpassen, dass wir nicht körperliche Fakten schaffen und der Franka nun zunehmend ein Brustwachstum durch Östrogen induzieren, und sie hat aber gar kein Leben dazu. Also, brauchen wir dann möglicherweise noch mal Zeit oder einen Umzug oder einen Schulwechsel. Ja, ich kenne auch Leute, die in andere Gegenden gezogen sind oder gesagt haben: ‚Ich kann das jetzt momentan nicht machen.‘ Das ist die Frage des „Empfangsraumes“, einfach, weil wir es innerstädtisch gewohnt sind. In der Frankfurter Innenstadt gibt es viel Platz für diese Menschen, aber wenn sie irgendwie auf die Schwäbische Alb oder in die Rhön gehen, wird es schon etwas dünner, und das wollen wir auch herausfinden.
„Wie soll ich dich ansprechen?“
Axel Enninger: Ein Teil des Alltags sind ja Arztkontakte, und wir Kinder- und Jugendärzte gehören auch mit dazu. Was sind denn, sagen wir mal, grobe Schnitzer, wo Sie sagen würden: ‚Hey Kollegen, das war jetzt irgendwie ein bisschen daneben‘?
Thomas Lempp: Vielen Dank für diese Frage. Also da möchte ich einfach mal von meinen Patienten erzählen, von denen ich wirklich viel lerne und die mir immer wieder erzählen, was sie erleben. Sie erleben eben schöne Geschichten in Praxen und sie erleben unschöne Geschichten. Die Idee, dass ein Arzt sagt, es gäbe jetzt keine juristische Änderung des Namens, er könne das jetzt nicht verwenden, oder dass bei einer stationären Aufnahme die Leute sagen: ‚Es muss jetzt unbedingt so und so laufen, und wir können absolut jetzt nicht auf das Essenstablett deinen Wunschnamen schreiben‘, das ist mir unbegreiflich. Der Patient ist doch eh schon in einer schwierigen Situation, man ist irgendwo in einer hilflosen Lage, und dann sagt man: ‚Hey, könnt ihr mich bitte mit einem anderen Namen ansprechen?‘ Dann würde ich den kollegialen Rat geben: Tun Sie es doch! Tun Sie es doch im Zweifel. Sie machen damit in der Regel nichts falsch und der Patient erlebt Sie als vertrauenswürdige Person, der man eventuell auch noch mehr erzählen kann. Wenn Sie es nicht tun, kommen Sie in Kämpfe, die Sie überhaupt nicht brauchen. Warum können wir nicht auf diesen Wunsch eingehen? Dafür würde ich sehr plädieren, auch an alle Zahnärzte, Frauenärzte, Frauenärztinnen, Kinderärztinnen, wo diese Menschen im Gesundheitssystem hinkommen. Die offene Frage: ‚Wie soll ich dich ansprechen?‘ ist eine Einladung und die Menschen fühlen sich wohl, wenn ihnen diese Frage gestellt wird. Natürlich gibt es Grenzen, es gibt Schwierigkeiten der Zimmerbelegung, die kenne ich sehr gut aus meiner Klinik. Aber mit diesen Patienten kann man in der Regel gut sprechen und sagen: ‚Du, wir bemühen uns, aber alles wird nicht möglich sein. Aber ich versuche, das gut zu machen, und wenn ich etwas falsch mache, hilf mir halt.‘ Oder so etwas, dann geht es ganz gut.
Axel Enninger: Okay, das versuchen wir in unserer Klinik auch so. Es gibt natürlich Namensaufkleber, es gibt im SAP hinterlegte Namen und dann muss man aber tatsächlich irgendeine Möglichkeit finden zu sagen: ‚Möchte aber als „so und so“ angesprochen werden.‘ In der Tat, so ist es, und ganz schwierig wird es ja dann, wenn das auch mal wechselt. Da fällt es mir dann manchmal schwer, gestern Susanne, morgen Kevin. Also, ich gebe mir Mühe, das zu tun, aber ich bekenne, dass ich zwischendurch dann manchmal so innerlich etwas schmunzele und denke: ‚Hm‘, aber auch das machen wir mit.
Thomas Lempp: Also, das Mühe-Geben rechne ich Ihnen hoch an, weil ich glaube, dass diese Patienten sehr feinfühlig sind. Sie gehören einer Minderheit an. Sie haben bereits in hohem Maße Diskriminierung erlebt, und wenn sie merken, der Herr Doktor Enninger bemüht sich, das ist großartig, dann wollen die wieder zu Ihnen kommen. Das innerliche Schmunzeln würde ich Ihnen gerne abgewöhnen.
Axel Enninger: Möchte ich auch gerne.
Thomas Lempp: Denn jeder dieser Patienten ist eventuell gerade dabei, zu beginnen, eine Identität zu entwickeln, die er dann lebenslang weiter hat. Und möglicherweise ist der Kontakt mit Ihnen, den man vielleicht aus ganz anderen Gründen schon länger kennt – der Kinderarzt, dem man vertraut – möglicherweise ist das der Mensch, dem ich das mal anvertraue. Und dieses Schmunzeln oder dieses: ‚Na ja, das wird schon eine Phase sein‘, oder ‚Es war ja letztes Mal auch anders‘, oder ‚Dieser Name ist aber komisch‘, oder ganz schlimm: ‚Auf mich wirkst du aber gar nicht so weiblich‘, oder so etwas, das sind natürlich Dinge, die möglicherweise dazu führen, dass der Kontakt abbricht oder dass der Patient auch sagt: ‚Okay, ich habe es mal jemandem erzählt, scheinbar hat es nicht gut geklappt, ich schweige mal wieder für zwei Jahre.‘ Und schon wieder geht für zwei Jahre das Fenster zu, wir kommen nicht ran. Und ich glaube, da müssen wir uns als Ärzte, Ärztinnen bewusst sein, dass wir ja oft für sehr sensible Themen Ansprechpartner sind in allen möglichen Bereichen. Und natürlich weiß auch ich, dass viele Leute, die zu mir sagen: ‚Jetzt, heute will ich aber so genannt werden‘ – und die Namen sind ja manchmal sehr besonders – dass das auch möglicherweise in ein paar Wochen wieder anders sein wird und sich wieder auflöst. Das ist so, aber es könnte eben auch hinter jedem dieser Menschen etwas Weichenstellendes, Schicksalhaftes fürs ganze Leben dahinterstehen, und ich glaube, die Chance sollten wir jedem einräumen.
Axel Enninger: Okay, ein schönes Plädoyer. In der Tat versuche ich das auch. Ich erinnere mich sehr lebhaft an einen Patienten, den ich vielleicht vor einem halben Jahr in einer Sprechstunde gesehen habe. Jetzt sage ich schon „den Patienten“, also SAP-Aufnahme, ein männlicher Name, und da kam ein Jugendlicher herein, der Bartwuchs hatte, tiefe Stimme hatte, aber ansonsten wie eine junge Frau gekleidet war. Ich habe ihn dann angeguckt und gesagt: ‚Gehe ich recht in der Annahme, dass du gerne als Frau angesprochen werden möchtest?‘ Und da hat er, sie gesagt: ‚Ja, ja, sehr gerne‘, und dann war es auch gut, da war die Luft dann auch raus. Aber in der Tat, das kostet schon auch ein bisschen Überwindung. Und das ist aber wahrscheinlich lohnende Überwindung, wo Sie jetzt auch raten würden: Fragt doch einfach!
Offen, ehrlich und vielleicht ein „Tut mir leid“
Thomas Lempp: Angstfrei nachfragen, keine Sorgen haben, etwas falsch zu machen. Wenn man daneben liegt und der Patient irgendwie zusammenzuckt, dann sagt man vielleicht: ‚Entschuldigung, habe ich gerade etwas Falsches gesagt? Wie kann ich es besser machen für dich?‘, ohne sich verbiegen zu wollen. Also ich glaube, wir müssen uns nicht in politischer Korrektheit üben. Wir sind auch im Stress, wir machen Dinge falsch. Ich benutze auch immer wieder falsche Pronomen und so weiter, und dann sage ich: ‚Tut mir leid, ich habe es falsch gemacht.‘ Oder ich habe Patienten, die wollen von mir, dass ich das Pronomen weglasse, und dann sage ich ihnen immer: ‚Ich versuche es, aber es fällt mir unglaublich schwer, und vielleicht kann ich auch nicht so locker mit dir reden.‘ Seien Sie offen, ehrlich und vielleicht sogar – das ist ja generell auch ganz gut in der Medizin – sich gelegentlich mal bei den Patienten zu entschuldigen. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Ich habe aber ein paar Jahre gebraucht, um es zu lernen. Aber ich sage auch immer wieder: ‚Tut mir leid, vielleicht kann ich es besser machen.‘ Ja, aber wir müssen uns auch nicht verbiegen. Ich denke, die Unsicherheit, diese Sorge ‚oh, jetzt sage ich was Falsches, oh, ich benutze was Falsches‘, die nimmt uns natürlich die Souveränität auch weg. Und die brauchen wir ja, wir müssen ja für die Patienten gute Entscheidungen treffen. Ob es nun um körperliche oder psychische Gesundheit oder diese Trans-Beratung geht, ist ja unabhängig davon.
Axel Enninger: Okay. Also, ich finde, das war noch mal ein guter Punkt und gilt ja nicht nur für Menschen mit, sage ich mal, dem Thema Transsexualität, sondern gilt natürlich auch für fast alle unsere Patienten. Danke für dieses Plädoyer. Wie muss ich mir das denn jetzt weiter vorstellen, wenn Sie also jetzt entschieden haben, beziehungsweise gemeinsam die Entscheidung war, die Alltagserprobung war gut und Frank entscheidet sich, als Franka leben zu wollen, es gibt jetzt Östrogene: Wie muss ich mir langfristig die Gesundheit, die psychische Gesundheit von einem Menschen mit so einer Anamnese vorstellen? Hat er hinterher ein Risiko, bestimmte Erkrankungen zu entwickeln, hat er das nicht, ist dann alles schön oder wie geht das?
Akzeptanz als beste Voraussetzung
Thomas Lempp: Also, jetzt rede ich mal erst einmal über die psychische Gesundheit. Wenn wir da gut beraten haben, das zum richtigen Zeitpunkt, weder zu spät noch zu früh entschieden haben, gut auf ihn aufgepasst haben, dass er jetzt nicht in die ärgste Depression, Suizidalität, Selbstverletzung abkippt – das sind so unsere üblichen Verdächtigen bei den Betroffenen – dann hat der ein sehr, sehr gutes Outcome. Insbesondere, das zeigen neuere Studien, dass die Akzeptanz der Kernfamilie ein wichtiger Punkt ist. Auch die Frage, wie gehen die Eltern und die Geschwister mit diesem Thema um, dass die Akzeptanz hochgradig korreliert mit der späteren Lebensqualität, mit der Lebenszufriedenheit. Das scheint bei Jugendlichen extrem wichtig zu sein. Es ist nicht nur die Schule, sind nicht nur die Lehrer und die Peers, sondern in ganz hohem Grade ist die Akzeptanz der Kernfamilie für diese Geschlechtsidentität maßgeblich. Und dann haben sie langfristig ein sehr gutes Outcome und vor allem haben sie natürlich die Möglichkeit, in einem Alter bereits in diesem gewünschten Geschlecht zu leben und auch viel mehr in Partnerschaft und in ihrer Ausbildung schon in dieser Geschlechtsidentität zu sein. Und wir vermeiden damit Verläufe, die ja auch die meisten Menschen kennen, von erwachsenen Menschen, die mit 40, 50 sagen: ‚Mein ganzes Leben war eine Lüge, das ist eigentlich alles so, ich habe es mir nie eingestanden, aber ich möchte eigentlich als Erwachsener in eine Transition gehen.‘ Und da ist das Outcome ja in der Regel deutlich schlechter. Und diesen Menschen sieht man ja meistens auch lebenslang an, dass sie eben eigentlich biologisch ein anderes Geschlecht waren. Die meisten meiner Patienten würden Sie auf der Straße und in Ihrem Sprechzimmer überhaupt nicht erkennen, ob Junge oder Mädchen. Die haben in der Regel ein extrem hohes Passing. Also Passing heißt immer, ich nehme gar nicht wahr, dass das möglicherweise mal als ein anderes Körpergeschlecht zur Welt kam. Und damit haben sie eine sehr gute Prognose und können dann später auch Krankenpfleger werden, oder Bürgermeister von Berlin oder Außenminister oder all diese Dinge. Und wir können sie in die Mitte der Gesellschaft bringen, und das ist eigentlich auch das Schöne, warum ich denke, dass diese Frühintervention so viel Sinn macht, dass wir eben diese Verläufe verhindern, in denen das über Jahre unentdeckt bleibt und die Menschen dann teilweise Familien gründen in Geschlechtern, die sie gar nicht wollen. Das ist ja dann teilweise dramatisch. Ich behandle auch Kinder von Eltern, die es sich dann überlegt haben und ich weiß, wie schwer es für die Kinder ist, wenn Papa plötzlich Mama ist. Und ich fände es toll, wenn wir als Kindermediziner solche Fälle verhindern können.
Einwilligungsfähigkeit anstelle von Altersgrenzen
Axel Enninger: Also jetzt haben Sie das vorhin schon gesagt. Passing heißt sozusagen, es fällt nicht auf, aber dazu gehören natürlich auch die äußeren Geschlechtsmerkmale. Operationen waren ja, wenn ich das richtig verstanden habe, früher auch im Kinder- und Jugendalltag quasi okay. Aber jetzt gibt es doch eine klare Festlegung: keine, sagen wir mal, neugeschlechtsangleichenden OPs zu einem bestimmten Zeitpunkt, oder ist das falsch?
Thomas Lempp: Das ist falsch. Sowieso sind die Altersgrenzen alle weggefallen. Wir gehen jetzt auf Einwilligungsfähigkeit, das haben uns die Medizinethiker beigebracht. Das macht man übrigens auch in der Kinderpalliativmedizin, in Onko-Fragen. Sie gehen auch alle auf Einwilligungsfähigkeit. Oder wenn die Frauenärzte ein Kontrazeptivum an Teenager verschreiben, es gibt keine Altersgrenze, auch juristisch nicht, sondern es gibt die Einwilligungsfähigkeit. Das heißt, auch Operationen sind denkbar und besprechbar. Das sind bei uns Einzelfälle, das sind in der Regel Trans-Jungen mit großen Brüsten, bei denen ich überhaupt keinen Sinn sehe, warum die nun, nachdem sie schon Testosteron nehmen, noch bis 18 warten müssen, um diese extrem großen Brüste zu verbergen. Und da stellen wir dann in gut begründeten Ausnahmefällen, wenn wir sie lang genug kennen, gemeinsam auch die Indikation zu einer Mastektomie. Genitalangleichende Operation, das ist ja vielleicht so ein bisschen der allerschwierigste Bereich, ist in der Kinder- und Jugendmedizin eine absolute Seltenheit. Ich will nicht sagen, dass wir das nicht auch schon aus gewissen Gründen erwogen haben, aber das ist absolut selten. Auch die Frage, ob die Einwilligungsfähigkeit für so etwas dann tatsächlich in diesem jungen Alter bestehen bleibt. Aber die Mastektomie, also die Entfernung der Brust – die Franka wäre ja eher an einem Brustaufbau interessiert, aber da würde ich erst mal Östrogen abwarten, das wirkt ja oft ganz gut, die entwickeln das oft gut – aber die Mastektomie bei einem siebzehnjährigen Trans-Jungen kann immenses Leid reduzieren und plötzlich können die Leute wieder ins Schwimmbad und flirten und tanzen und haben vielleicht mal Geschlechtsverkehr, was überhaupt nicht denkbar war vorher. Da haben wir schon gute Erfahrungen gemacht, aber das sind wirklich Einzelfälle, das ist wohlüberlegt. Aber die Kinder und Jugendlichen kategorisch von diesen Operationen auszuschließen, halte ich für so falsch wie sie generell zu befürworten und zu sagen, wer Testosteron hat, braucht jetzt auch eine Mastektomie oder so. Viele brauchen das auch nicht.
Axel Enninger: Okay, sehr gut. Tatsächlich ein ganz spannendes Thema und ich bekenne, dass Sie mich im Vorgespräch schon überzeugt haben, jetzt noch mehr, dass meine Vorstellung, ich gebe Hormone, greife da ein in die natürliche Entwicklung, ich verstehe das jetzt, ich kann es jetzt kapieren zu sagen, da gibt es Zeit, die ich gewinnen muss und die Zeit nutze ich dann auch, die wird sinnvoll genutzt. Also das fand ich jetzt sehr, sehr schön nachvollziehbar, vielen Dank. Es gibt in diesem Podcast ein traditionelles Element und dieses traditionelle Element heißt Dos & Don’ts. Ich ahne fast schon, das sind ein paar von den Dingen, die wir vorhin schon so halb angesprochen haben, aber nichtsdestotrotz würde ich Sie bitten um ein paar Dos & Don’ts für Ihre Kinder- und Jugendarztkollegen.
Akzeptanz, Atteste, nicht abtun als „Modeerscheinung“, Nüchternheit
Thomas Lempp: Also mein Tipp für die Praxis wäre, im Zweifel immer erst einmal den Augenblick zu akzeptieren und damit nicht Angst zu haben, man würde irgendwelchen medizinischen Maßnahmen zustimmen, sondern immer erst einmal sagen: ‚Du wirst schon wissen, wie du dich fühlst. Ich glaube dir das und gehe da erst einmal mit, so gut ich es halt kann.‘ Mein zweiter Rat für die Praxis ist, mit allen Mitteln zu versuchen, dass sich die Eltern, die in der Regel auf einem anderen Standpunkt stehen als die Kinder, nicht auseinanderdividieren lassen und dass sie sich nicht auf eine Seite drängen lassen. Ich möchte auch noch einmal ein Plädoyer für Eltern halten, die mit diesem Thema völlig überfordert sind, einfach auch sagen: ‚Das macht mir Angst. Ich möchte, dass meine Tochter eine Tochter bleibt. Ich wollte sie immer als Tochter haben. Es tut mir weh, ich kann da erst einmal nicht mitgehen.‘ Das sind Menschen, die auch Akzeptanz brauchen und mit denen wir uns auf den Weg machen müssen. Also Lösungen für die ganze Familie. Es geht nicht darum, die Rechte der Jugendlichen durchzusetzen und auch nicht die Rechte der Eltern, sondern ich habe großes Verständnis für Eltern, die das erst einmal komisch finden. Sie müssen sich eben auf den Weg machen, man muss eben dazulernen, wie wir auch. Aber erst einmal brauchen sie auch Akzeptanz und fühlen sich schnell abgeschreckt, wenn man ihnen das nicht entgegenbringt. Letzter Tipp: Seien Sie großzügig mit Attesten. Wir haben zwar keine Lust, Atteste auszustellen, das geht uns auf die Nerven. Aber bei diesen Menschen können wir damit sehr hilfreich gesellschaftliche Teilhabe ärztlich legitimieren. Haben Sie keine Angst, etwas falsch auszustellen. Besuche von Schullandheimen, Schwimmbadbesuche, Entlastung vom Sportunterricht, Toilettenbenutzung, Vereinszugehörigkeit: spielen wir in der Mädchenmannschaft, in der Jungsmannschaft? Da können Sie als Arzt sehr leicht Credits machen, wenn Sie den Patienten ermöglichen, in ihrem gewünschten Geschlecht ihren Tätigkeiten nachzugehen.
Gut, wovon würde ich abraten? Ich würde von der Idee abraten, es irgendwie als Modeerscheinung abzutun. Selbst wenn es das einmal wäre, im Einzelfall, tun Sie Ihren Patienten damit einfach nur weh, und der Patient wird Ihnen das auch nicht vergessen, dass Sie es gemacht haben. Wenn Sie aber da mitgegangen sind und der Patient überlegt es sich in zwei Jahren, sagt er immerhin: ‚Ja, die Frau Doktor war damals an meiner Seite, sie hat mir geglaubt, sie war bei mir.‘ Also die Idee, man guckt sich das ab, das kommt aus dem Internet, das mag im Einzelfall sogar stimmen, aber das als solches zu benennen oder das vorschnell ätiologisch vorzuschieben, ist eigentlich in der Regel kontraproduktiv und lässt den Arzt–Patienten-Kontakt auch möglicherweise abreißen, was ja schade wäre, egal in welchem Teil der Medizin man sich aufhält.
Gut, und dann vielleicht noch einmal ein Plädoyer zur Nüchternheit: Haben Sie keine Angst vor diesen Patienten, haben Sie keine Angst, plötzlich als transphob dargestellt zu werden – sowieso ein schwieriger Begriff, finde ich – sondern zeigen Sie den Patienten, dass Sie versuchen, es mit ihnen gut zu machen. Haben Sie keine Angst, falsche Begriffe zu verwenden, zeigen Sie eben eine gewisse Sensibilität für Begriffe, aber das machen wir als Mediziner ja sowieso. Wir haben uns auch das Wort „Hasenscharte“ abgewöhnt, wir reden nicht mehr von „Mongolismus“, wir tun gut daran, nicht von „Hysterie“ zu sprechen, dann können wir auch in anderen Begriffen dazulernen, und das macht ja den Job auch schön, wenn wir immer ein bisschen geistig aktiv bleiben und sagen: ‚Ich versuche, meine Sprache so zu verwenden, dass ich dir damit nicht wehtue.‘
Axel Enninger: Vielen herzlichen Dank. Das war wirklich ein ganz schöner Schlusssatz, hat mir sehr gut gefallen. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlichen Dank für Ihr Interesse. Herzlichen Dank fürs Zuhören und wir freuen uns wie immer über Rückmeldungen, entweder als Text oder als Sternchen. Und Sie wissen auch, wir freuen uns über Themenanregungen, Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Und wie immer: Bleiben Sie uns gewogen.
Hilfreiche Informationen: (Erscheinen im Transkript)
Leitlinie:
AWMF (2025) S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung. Registernummer 028-014. Version 6.1.https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-014.
Kurzversion der neuen Leitlinie für Kinder und Jugendliche:
Literatur:
Lempp T, Schöfer L, Daxer F (2022) Geschlechtsdysphorie – Umgang mit Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Psychotherapie im Dialog 23 32–36. Doi:10.1055/a-1487-8837.
Übersichtsartikel:
Richter-Unruh A, Wüsthof A, Pauli D, Lempp T & Romer G (2025) Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung (S2k) AWMF-Register-Nr. 028–014. Monatsschr Kinderheilkd 10, 1–12. https://doi.org/10.1007/s00112-025-02289-4
Links, Selbsthilfe:
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https://www.dgti.org/ (Jugendalter)
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