consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #62 - 22.08.2025
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Im Schatten der Leukämiepatienten – nicht-onkologische Hämatologie
Axel Enninger: Mein Gast heute ist
Dr. Leila Koscher
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.Kardiologie in der pädiatrischen Praxis
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Wir reden heute unter dem Thema „benigne Hämatologie“ über Bluterkrankungen, die aber nichts mit Krebs zu tun haben. Meine Gesprächspartnerin dazu ist Frau Dr. Leila Koscher. Sie ist Kinder- und Jugendärztin. Sie arbeitet in der Universitätskinderklinik in Frankfurt. Sie ist in der Weiterbildung zur Hämatologin und Kinderonkologin und sie leitet die hämatologische Ambulanz, die Sprechstunde. Herzlich willkommen, liebe Frau Koscher.
Leila Koscher: Ja, hallo, vielen Dank für die Einladung, Herr Enninger.
Axel Enninger: Sie hatten uns das Thema vorgeschlagen, weil es Ihnen so sehr am Herzen liegt. Und in der Tat ist es ja so, wenn man sich die Namen der Abteilungen anguckt, heißt es immer „Abteilung für Hämatologie und Onkologie“ und trotzdem haben wir alle im Kopf das Wort „Krebs“. Ihnen ist ganz wichtig, dass es eben nicht immer Blutkrebs ist. Und deswegen hatten Sie das Thema vorgeschlagen. Erzählen Sie doch mal ein bisschen, was Sie so an diesen Themen bewegt.
Leila Koscher: Ja, das ist richtig. Es ist ein gemeinsames Fach, und das ist auch genau das, was mir in der Klinik Spaß macht, beides zu haben. Aber es sind unterschiedliche Krankheiten, und sie sind auch unterschiedlich in der Betreuung und in den Konzepten an Kliniken. Die onkologischen Diagnosen, die sind akut, die sind einschneidend, auch trotz verbesserter Prognosen, und das ist eine hohe Belastung für alle, die mit an Bord sind. Die hämatologischen Krankheiten, die uns in der Sprechstunde so beschäftigen, sind ja häufig eher chronischer Natur. Die Patienten stehen dadurch oder unter anderem dadurch oft im Schatten von onkologisch erkrankten Patienten. Sie bekommen weniger Aufmerksamkeit sowohl von der Allgemeinheit, den Medien, aber wenn wir ganz ehrlich sind, auch im Kliniksalltag, und das ist in meinen Augen nicht ganz fair. Damit wird man ihnen nicht gerecht.
Axel Enninger: Also es geht tatsächlich auch ein bisschen im Sinne der Patienten darum: Leute, da gibt es eine Patientengruppe, um die wir uns entweder nicht so gut kümmern oder die wir nicht so gut beachten. Über was reden wir denn da? Was sind denn die wesentlichen Erkrankungen, die Sie im Fokus haben? Aber vielleicht noch mal vorneweg: Womit kommt man denn überhaupt zu Ihnen in die Ambulanz, wenn man denkt, das ist vielleicht gar kein Krebs? Was ist ein Vorstellungsgrund oder ein Überweisungsgrund in Ihre Sprechstunde?
Anämien, Thrombozytopenien, Leuko- oder Neutropenien – symptomatisch oder gar nicht krank
Leila Koscher: Das ist ein großer Kessel Buntes, würde ich mal sagen. Die Gründe sind ganz unterschiedlich. Viele Patienten werden von niedergelassenen Kollegen zu uns geschickt oder auch von anderen Kliniken wegen irgendwelcher Blutbildauffälligkeiten. Das ist viel häufiger ein „Zuwenig“ als ein „Zuviel“, also Anämien, Thrombozytopenien, Leuko- oder Neutropenien. Es ist viel häufiger, als dass wir mal einen „Zuviel“ von einer bestimmten Blutzellenreihe sehen. Es sind ganz oft Zufallsbefunde tatsächlich, wo es erst mal darum geht, das richtige Maß an Diagnostik abzuschätzen. Wie viel Abklärung brauchen wir denn überhaupt? Sind sie denn wirklich krank, oder ist da nur ein Wert außerhalb der Norm? Und dann gibt es natürlich die symptomatischen Kinder, also Kinder, die so auffällige Werte haben, dass es zu Symptomen führt, die mit einer schweren Anämie kommen, die Blutungszeichen haben bei Thrombozytopenien oder wo vielleicht auch Immundefizienzen schon aufgetreten sind. Und eine dritte, neuere Gruppe – und das ist vielleicht eine Besonderheit jetzt auch für uns in der Hämatologie – sind Patienten, die über Screening identifiziert werden. Wir haben seit ein paar Jahren die Sichelzellkrankheit im Neugeborenen-Screening mit drin. Und das ist jetzt, wie gesagt, eine Gruppe, die relativ unvorbereitet vor uns sitzt: viele Eltern, die solch eine Diagnose über das Screening mitgeteilt bekommen, mit einem vermeintlich gesunden Kind zu uns geschickt werden und denen wir solch eine Diagnose erst einmal näherbringen müssen.
Axel Enninger: Gibt es denn von diesen Überweisungen von Niedergelassenen an Sie eine Gruppe, wo Sie sagen würden: ‚Die werden häufig geschickt, aber, ganz ehrlich, liebe Niedergelassene, das könnt ihr alleine‘? Ich ahne mal, da gibt es so die eine oder andere Patientengruppe. Was könnten Sie denn da identifizieren oder welche Ratschläge könnten Sie geben?
Postinfektiöse Thrombopenie nicht in die Spezialsprechstunde, Eisenmangelänamie beim Pädiater besser versorgt
Leila Koscher: Also, da gibt es einige, aber prinzipiell beraten wir natürlich immer gerne mit, wenn jemand zu uns schickt. Kollegen machen sich häufig Sorgen, kommen irgendwo nicht weiter und da sehe unseren Auftrag, mit an Bord zu gehen. Aber Blutbildauffälligkeiten, die in meinen Augen jeder Kollege in der Praxis genauso gut betreuen kann, sind zum Beispiel reaktive Veränderungen: also ein sonst gesundes Kind, gerade postinfektiös, mal eine leichte Thrombopenie. Im Kleinkindalter sind es auch die Neutropenien, die einmal reaktiv auftreten können. Wenn das Kind stabil ist, wenn es ihm gut geht, dann kann man es kurz- und mittelfristig, glaube ich, ganz gut in der Praxis abklären. Und die zweite große Sache, wo ich sogar glaube, dass die Kinderarztpraxen viel besser sind als wir in der Spezialsprechstunde, sind die Eisenmangelanämien. Da geht es ja gerade um eine längerfristige Betreuung, um eine Compliance-Sicherung, darum, die Kinder wieder einzubestellen und zu gucken, klappt es denn jetzt besser? Gerade, wenn es ja doch eher die nahrungsbedingten Eisenmangelanämien sind, können sie viel mehr als wir.
Axel Enninger: Okay. Wenn ich mit unserer Hämatologin spreche, sagt sie, sie wird überschüttet von Anfragen bezüglich Neutropenie und sagt eben auch ganz häufig: ‚Infektassoziiert. Liebe Leute, macht euch keine Sorgen, kontrolliert es in ein paar Wochen und da müsst ihr erst einmal das Kind nicht zu uns schicken.‘ Würden Sie da zustimmen oder würden Sie sagen: ‚Ach komm, kriegen wir schon hin, lieber schicken‘?
Leila Koscher: Nee, ich sehe das genauso. Also, wer die Warnzeichen für eine relevante Neutropenie kennt und das ein bisschen abgeklopft hat mit den Eltern, mit dem Kind, der kann das prima auch über die Praxis weiter kontrollieren.
Axel Enninger: Dann sagen wir die mal kurz, die Warnzeichen.
Relevante Neutropenie bei schweren, atypische Infektionen und weiteren Auffälligkeiten
Leila Koscher: Ja, da geht es tatsächlich darum, wie krank ist das Kind denn wirklich. Wir alle wissen, dass Kleinkinder wahnsinnig viele fieberhafte Infektionen im Jahr kriegen, gerade wenn KiTa-, Kindergartenstart ansteht oder anstand. Das zählt nicht. Es sind die schweren Infektionen, es sind die invasiven Infektionen, es sind die atypischen Infektionen, sei es vom Ort oder auch vom Erreger. Es ist das Kind, das mehrmals im Jahr stationär aufgenommen war und immer ein Antibiotikum bekommen hat, weil es eine bakterielle Infektion war. Das sind Kinder, die vielleicht auch noch andere Auffälligkeiten haben: Gedeihstörungen vielleicht, auch Probleme mit der Verdauung, Hautauffälligkeiten oder eine auffällige Familienanamnese.
Axel Enninger: Okay, das heißt also, das klassische Kindergartenkind mit einem Schnupfen nach dem anderen oder frisch in der KiTa, älteres Geschwisterkind zu Hause, solche Dinge. Den Kindern geht es gut, keine schwerwiegenden Infektionen, Neutropenie kontrollieren im infektfreien Intervall und dann erst mal die Nerven bewahren. Das Gleiche gilt wahrscheinlich auch, wenn die Thrombos ein bisschen runter sind, oder?
Leila Koscher: Ja, im Wesentlichen ja. Genau. Also diese Immunthrombozythopenien, ITP, die sich als Maximalform entwickeln können, können natürlich dramatisch sein oder dramatisch aussehen, sagen wir es mal so. Das sind beeindruckend niedrige Werte und sie haben durchaus manchmal auch kutane Blutungszeichen. Diese Kinder sehen wir natürlich gerne. Wenn es extremer wird, brauchen die Eltern auch eine gewisse Sicherheit und vielleicht auch der Kollege oder die Kollegin in der Praxis, dass da jemand mit draufschaut und die Finger dran hat.
Axel Enninger: Stimmt der alte Spruch noch, ITPs bluten nie ins Hirn?
Leila Koscher: Ach, das wäre schön, aber es ist leider nicht ganz der Fall. Sie bluten sehr, sehr selten ins Hirn, aber es ist…
Axel Enninger: …extrem selten, oder?
Leila Koscher: Es ist sehr, sehr selten, ja.
Axel Enninger: Okay. Da ist man ja immer wahnsinnig beunruhigt und muss sie in Watte packen und dann… Okay, ja es passiert, aber nein, es passiert nicht wirklich häufig.
Leila Koscher: Richtig.
Axel Enninger: Okay. Das sind die Kinder, wo Sie sagen würden: ‚Liebe Niedergelassene, das könnt ihr gut alleine.‘ Aber Kinder, die Sie sehen wollen, wären erstens die Kinder, die wegen einem Neugeborenen-Screening zu Ihnen geschickt werden. Was wären andere Punkte, wo Sie sagen würden: ‚Gute Idee eine Überweisung zu uns auszustellen?‘
Schwere Blutbildveränderungen immer überweisen
Leila Koscher: Ja, schwerere Blutbildveränderungen natürlich. Also die Anämie, die eben nicht die Eisenmangelanämie ist, wo man selber nicht gut weiterkommt, also als Abklärung der mikrozytären Anämie. Wenn es nicht der Eisenmangel ist, muss man ja an die Beta-Thalassämie minor denken. Das darf, je nachdem wie sicher man sich fühlt, auch ein niedergelassener Kollege tun, mal eine Hämoglobinanalyse schalten und dann das richtig interpretieren, die Familie beraten. Wer sich damit gut auskennt, kann das, glaube ich, genauso gut wie wir. Aber ein Kind, das symptomatisch anäm ist, das nicht auf eine Eisentherapie anspricht, das darf natürlich gerne zu uns kommen und genauso eben auch zum Beispiel die Thrombozytopenie, Neutropenie, die sich eben nicht gut mittelfristig erholen.
Axel Enninger: Okay. Dann wechseln wir jetzt noch mal das Thema. Sie haben gesagt, Neugeborenen-Screening, da hat sich etwas verändert und da würde ich gerne so ein bisschen Einblick in Ihren klinischen Alltag kriegen.
Neuerung im Neugeborenen-Screening: Sichelzellkrankheit
Leila Koscher: Ja, das Neugeborenen-Screening auf Sichelzellkrankheit gibt es seit Ende 2021 in Deutschland. Da werden wirklich alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft eingeschlossen, und so bekommen wir innerhalb der ersten Lebenstage ein Ergebnis über das Hämoglobinmuster eines Kindes, also ist da HbS statt HbA drin oder eben nicht. Die Kinder, bei denen das HbS gefunden wird – ausschließlich HbS, kein HbA – die sollen sehr früh in einer hämatologischen Sprechstunde vorstellig werden, weil man gesehen hat, dass man mit einem frühen Einsetzen von Maßnahmen die Kleinkindersterblichkeit reduzieren kann. Es war ein Thema der letzten Jahrzehnte, schon durch Infektionsprophylaxen und gute Elternschulung eine erhebliche Mortalitätsreduktion erreichen zu können. Und das soll noch mal dadurch verbessert werden, dass diese Kinder eben nicht erst symptomatisch werden müssen, bis man auf die Diagnose kommt, sondern dass wir es früh wissen.
Axel Enninger: Helfen Sie mir pathophysiologisch noch einmal auf die Sprünge. Warum ist HbS ein Problem?
Leila Koscher: HbS entsteht ja durch eine Punktmutation. Es ist das klassische Beispiel einer monogenen Krankheit. Sie haben alle ihre Mutation im Gen, das für die Betaglobinkette des Hämoglobins kodiert. Und da wird eine hydrophile durch eine hydrophobe Aminosäure am Ende ersetzt. Das führt zu einer Strukturveränderung dieses Sichelzellhämoglobins. Dieses HbS-Sichelzellhämoglobin neigt dazu, im desoxygenierten Zustand zu polymerisieren. Es ist dann nicht mehr so fein gelöst und dann bilden sich, ja, wie kleine Stäbchen könnte man es sich vorstellen. Diese Polymerisation führt dann zu der namensgebenden Verformung der Erythrozyten, zu dem Sichel.
Axel Enninger: Also, sie „bleiben stecken“ auf Deutsch.
Leila Koscher: Bleiben stecken und führen zu diesen Endothelveränderungen, zur Vaskulopathie, zu diesem Gesamtbild.
Axel Enninger: Jetzt haben Sie gesagt, es hat sich verändert durch das Screening. Nehmen wir jetzt einmal an, es kommt ein Kind von auswärts, nicht in Deutschland geboren, was ja nicht ganz selten ist bei dieser Erkrankung, und es hatte kein Screening. Wie werden sie auffällig?
Leila Koscher: Entweder wirklich mit einer ersten manifesten Krise. Mit einer Schmerzkrise, mit einer ersten Episode von einer schweren Anämie, vielleicht auch mal mit einem Thorax-Syndrom.
Axel Enninger: Sagen Sie noch mal kurz für diejenigen, die schon eine Weile aus der Klinik heraus sind: Die Sichelzellkrise sieht klinisch wie aus?
Leila Koscher: Es ist eine vaso-okklusive Krise, es sind Gefäßverschlüsse. Die klassische Sichelzellkrise ist eine Schmerzkrise. Das ist die häufigste notfallmäßige Vorstellung dieser Patientengruppe bei uns. Und da sind es Durchblutungsstörungen der Knochen, und das macht wirklich heftigste Schmerzen.
Axel Enninger: Tut saumäßig weh. Ja, wer diese Kinder mal gesehen hat… Sie haben wahnsinnige Schmerzen, und ich versuche auch unseren Assistenten immer zu sagen: ‚Da spart ihr wirklich nicht mit Schmerzmedikamenten und ihr spart nicht mit Flüssigkeit!‘ Stimmt das noch?
Leila Koscher: Das ist richtig.
Axel Enninger: Also „Morphin und Wasser“, sage ich immer.
Leila Koscher: Morphin und Wasser und im Zweifelsfall auch noch ein bisschen Sauerstoff. Das ist das Grundprinzip jeder Akuttherapie einer Sichelzellkrise: Wir wollen dieses Sicheln durchbrechen, und das machen wir, indem wir die Rheologie verbessern, durch eine gute Flüssigkeitstherapie und wir versuchen die Sauerstoffversorgung zu verbessern. Gerade, wenn man schmerzgeplagt ist, neigt man zu einer Hypopnoe und dann kommt es zu einem Teufelskreis. Dann haben wir noch weniger Sauerstoff im Blut und dann sicheln wir noch mehr und dann wird es alles nur noch schlimmer. Wenn eine Krise ein gewisses Ausmaß erreicht hat, jetzt nicht mehr eine reine Schmerzkrise, brauchen wir es in der Regel nicht. Aber wenn es eben andere Organe betrifft, gerade die Lunge, also dieses sogenannte akute Thorax-Syndrom, oder es kann ja auch mal das Hirn betreffen und einen Schlaganfall auslösen, das sind dann die Fälle, wo wir wirklich aktiv den HbS-Anteil im Blut senken müssen, und das tun wir einfach über Transfusion oder Austauschtransfusion.
Axel Enninger: Noch einmal Thorax-Syndrom – es ist ja manchmal tricky, oder? Wenn man jemanden hat mit einer „Sichelzell-…“ ich sage immer noch „‑anämie“, darf ich nicht mehr sagen, haben Sie mir im Vorgespräch gesagt…
Leila Koscher: Bitte nicht, genau.
Axel Enninger: Ja, ich muss Sichelzellkrankheit sagen, ich übe daran, aber das Thorax-Syndrom von einem pulmonalen Infekt zu unterscheiden ist ja nicht so ganz simpel. Gibt es da „Taschenspielertricks“ Ihrerseits?
Leila Koscher: Nein, sondern eigentlich immer: daran denken, das ist das Wichtige. Also per definitionem ist jede Pneumonie bei einem Kind mit Sichelzellkrankheit ein akutes Thorax-Syndrom. Also die Definition ist dann; auffälliges Röntgenbild mit einem Infiltrat und jede Art von pulmonaler Symptomatik dabei. Da reicht schon ein bisschen Husten, dann ist es ein Thorax-Syndrom und so vorsichtig sollte man es dann tatsächlich auch behandeln.
Axel Enninger: Okay, Therapie haben wir gesagt, also Schmerzen behandeln, ordentlich Flüssigkeit geben. Wie ist es mit antibiotischer Therapie?
Leila Koscher: Beim Thorax-Syndrom immer, weil sie in der Regel eine Infektion als Auslöser haben. Das würde ich nie ohne Antibiotikum behandeln lassen, aber antibiotische Therapie generell bei Sichelzellkrisen ist ein bisschen schwieriger zu entscheiden. Viele reine Schmerzkrisen sind auch von Fieber und einem Anstieg der Entzündungsparameter im Blut begleitet, auch ohne, dass vielleicht eine bakterielle Infektion vorliegt. Trotzdem würde ich da immer sagen, im Zweifelsfall immer pro antibiotische Therapie, einfach weil diese Patienten durch ihre funktionelle Asplenie so gefährdet sind gegenüber Infektionen mit bekapselten Erregern.
Axel Enninger: Okay, außerdem hängt die Schwelle bei Onkologen zur antibiotischen Therapie sowieso ja niedriger aufgrund der vielen onkologischen Patienten, die sie mit Fieber in Neutropenie behandeln. Da sind wir Nicht-Onkologen ja manchmal überrascht, wie schnell und wie breit sie da behandeln, aber völlig verständlich. Es soll keine Kritik sein, es sind einfach unterschiedliche Blickwinkel. Okay, jetzt haben wir die Diagnose gestellt, entweder durch ein Screening oder durch die erste symptomatische Vorstellung. Was ist denn wichtig bei Patienten mit einer Sichelzellerkrankung in der Dauerbetreuung? Worauf achten Sie, wie oft sehen Sie sie und was sind die Themen, mit denen Sie sich beschäftigen?
Sichelzellkrankheit – Penicillinprophylaxe, Hydroxyurea, vorsorgliches Handeln
Leila Koscher: Ja, das ist eine Frage mit vielen Ebenen. Wie man die Betreuung oder vielleicht auch die Behandlung von Sichelzellpatienten anpackt, das hat verschiedene Stufen. Das eine ist einfach mal diese Basistherapie. Also wir bekommen wie gesagt im Moment ja vor allem Eltern mit asymptomatischen Neugeborenen zu uns in die Sprechstunde, und da geht es erst einmal ganz viel um Aufklärung: Was ist das und warum ist es so wichtig, dass wir uns jetzt so häufig sehen. Wir müssen Verständnis dafür generieren, dass das eine Krankheit ist, die einschneidend ist, die lebensbedrohlich ist – nicht nur sein kann, sondern ist – wenn man keine gute Compliance hat. Dazu gehört Termine wahrnehmen, entweder einfach noch mal zum Checkup oder für gewisse Routineuntersuchungen, aber dazu gehören eben auch Medikamente und Impfungen. Die Kinder bekommen alle eine Penicillinprophylaxe, sie bekommen zusätzliche Impfungen, da gibt es schöne Leitlinien.
Axel Enninger: Ich frage noch mal: Sie kriegen von Anfang an eine Penicillinprophylaxe, auch das Neugeborene, das jetzt im Screening auffiel?
Leila Koscher: Ganz genau die. Genau deswegen machen wir es. Sie sollen tatsächlich spätestens bis zum Ende des dritten Lebensmonats ihre Penicillinprophylaxe begonnen haben. Die Eltern müssen wissen, worauf zu achten ist. Wie kann ich Krisen verhindern? Da gibt es gewisse Vorsichtsmaßnahmen, die man im Alltag umsetzen kann. Das müssen die Eltern wissen. Das müssen später die Lehrer wissen. Da muss aber auch schon vorher der Kindergarten informiert sein.
Axel Enninger: Okay, lassen Sie uns nicht dumm sterben: Was sind das für Maßnahmen?
Leila Koscher: Es ist das Gleiche wie vorhin, also was wir in der Krise machen. Das kann man natürlich im Alltag versuchen und auch schon einmal präventiv eine gute Grundlage setzen: Also guter Flüssigkeitshaushalt, die Kinder müssen viel trinken, insbesondere wenn es heiß ist, wenn sie Sport machen oder wenn sie trockener Luft ausgesetzt sind wie im Flugzeug oder so. Sie sollen nicht auskühlen. Da hilft im Winter die dicke Jacke, da hilft es aber auch, dem Sportlehrer oder dem Schwimmlehrer zu sagen: ‚Er darf da mitmachen, aber wenn er aus dem Wasser herauskommt, bitte nicht am Beckenrand stehen und schlottern lassen, sondern er muss ein Handtuch da liegen haben. Der muss sich zwischendrin mal trocken und warmrubbeln.‘ Und dazu gehört, dass man Flüssigkeitsverlusten im Infekt vorbeugen muss. Also lieber großzügig Antiemetika einsetzen, lieber großzügig irgendwie rehydrieren und dazu gehört, dass man das Fieber senkt.
Axel Enninger: Okay. Und Penicillin-Dauertherapie. Gibt es noch irgendeine andere Medikation?
Leila Koscher: Das Basistherapeutikum bei der Sichelzellkrankheit.
Axel Enninger: Genau, und das ist was?
Leila Koscher: Das heißt Hydroxyurea oder Hydroxycarbamid. Das ist tatsächlich das einzige Basistherapeutikum, das wir haben. Es gab in den letzten Jahren noch zwei andere Medikamente, die sind aber leider wegen unzureichender Wirksamkeit, aber auch Sicherheitsbedenken wieder vom Markt genommen worden. Somit ist Hydroxyurea das einzige Medikament, das wir den Patienten anbieten können, das langfristig einen positiven Einfluss auf den Verlauf hat. Es reduziert die Krisen, es reduziert aber auch die Langzeitkomplikationen der Krankheit.
Axel Enninger: Wie macht es das? Weiß man das?
Leila Koscher: Das ist eine gute Frage, die noch nicht ganz bis ins letzte Detail verstanden ist. Es hat verschiedene Ansatzpunkte. Das Einfachste, und das macht man sich bei anderen Krankheiten zunutze, ist tatsächlich eine Induktion von HbF – ich sage immer „Babyhämoglobin“ zu den Eltern – was wir eigentlich alle nicht mehr in einem relevanten Maß produzieren, wird wieder hochreguliert. Dadurch sinkt der relative HbS-Anteil. Andererseits hat Hydroxyurea auch positive Effekte auf verschiedene Zellen. Es verändert die Membraneigenschaften von Blutzellen, aber auch von Endothelzellen. Über eine vermehrte NO-Freisetzung führt es auch zu einer besseren Gefäßelastizität. Das wirkt sich alles positiv auf die Vaskulopathie aus, die der Sichelzellkrankheit ja auch zugrunde liegt, wenn es um die chronischen Aspekte geht.
Die Eltern müssen gut Bescheid wissen
Axel Enninger: Und das ist eine Dauertherapie, und wie bei jeder Dauertherapie ist es manchmal mühsam. Medikamente einzunehmen ist nicht wahnsinnig lustig. Jeden Tag Medikamente einnehmen ist schwierig, aber es ist eine Dauertherapie. Da gibt es keine Pausen, da gibt es keinen Medikamentenurlaub, sondern es ist, wie es ist.
Leila Koscher: Ja, und das ist wirklich ein Vertrag, den man mit den Patienten eingeht. Bei diesem Medikament ist es noch zusätzlich so, dass wenn es abrupt abgesetzt wird, die Krisen vermehrt und verstärkt auftreten. Es hat eine Art Gewöhnungseffekt, so kann man sich das vorstellen. Das müssen wir den Eltern sagen: ‚Seht zu, dass ihr immer eine Packung auf Reserve habt. Wenn ihr auf Reisen geht, packt ja genug ein.‘ Die größeren Kinder, die auch mal auf Klassenfahrt gehen sollen und dürfen: ‚Schaut, dass sie wissen, wann sie es zu nehmen haben. Eventuell die Lehrer mit an Bord nehmen. Das ist wirklich wichtig.‘ Ansonsten ist es eine lebenslange Therapie – Klammer auf – außer in der Schwangerschaft, da sieht man das noch ein bisschen kritischer – Klammer zu.
Axel Enninger: Und wie oft sehen Sie diese Patienten in der Sprechstunde?
Leila Koscher: Das ist ein bisschen altersgestaffelt und natürlich auch vom Verlauf abhängig. Am Anfang investiere ich tatsächlich gerne viel Zeit mit diesen Familien, weil ich glaube, dass eine gute langfristige Betreuung darauf fußt, dass man sich am Anfang gut kennengelernt hat und dass man viel Verständnis für diese Krankheit geschaffen hat. Am Anfang sehe ich sie wirklich alle paar Wochen, und zwar nicht wegen des Kindes, das ist ja noch gesund. Es hat ja noch ganz viel HbF. Das HbS wird ja erst nach den ersten Lebensmonaten relevant. Und trotzdem: Sie müssen viel lernen. Wir zeigen den Eltern zum Beispiel, wie man eine Milz palpiert. Was wir auch den Studenten beizubringen versuchen, das müssen Eltern von Sichelzellpatienten wirklich gut können. Sie sollen bei jedem Wickeln einmal den Bauch des Babys abtasten, um zu erkennen, wenn sich die Milz auf einmal dramatisch vergrößert. Das ist eine gefürchtete Komplikation des Kleinkindalters, die sogenannte Milzsequestrationskrise. Man muss ein bisschen Gespür dafür entwickeln: Nehmen die Eltern das ernst? Geben sie das Penicillin? Kann ich mich nachher auch darauf verlassen, dass sie es mit dem Hydroxyurea gut hinkriegen? Kommen sie zu jedem Termin, haben sie es verstanden? Wissen sie, worauf sie im Alltag achten müssen? Kennen sie die Gründe, wann sie auch außerhalb von ausgemachten Terminen zum Arzt gehen müssen? Später gibt es feste Intervalle, wann gewisse Ultraschalluntersuchungen oder Blutentnahmen gemacht werden sollen, um die chronischen Folgeschäden abzuchecken. Wenn die Patienten wenig Komplikationen haben, dann reicht es auch, wenn man sie ein- bis zweimal im Jahr sieht.
Zusatzimpfungen, anfangs bei jeder fieberhaften Episode vorstellen
Axel Enninger: Impfungen?
Leila Koscher: Impfungen ja, und zwar ein paar zusätzliche. Gerade die bekapselten Erreger müssen zusätzlich abgedeckt werden. Das heißt, in Sachen Pneumokokken und Meningokokken bekommen sie ein bisschen mehr. Es gibt eine ganz schöne Übersicht, die wir vielleicht auch noch verlinken können (*). Da gibt es einen schönen Impfplan, Impfempfehlungen bei Asplenie, daran kann man sich gut orientieren.
Axel Enninger: Okay. Das ist jetzt für den Fall, dass es gut läuft, dann kommen sie nur in Ihre Ambulanz. Wenn Sie sagen, Schulung ist ein wichtiger Punkt: Bei welchen Symptomen sollen die Patienten ins Krankenhaus kommen? Ich ahne mal, dass Sie die Eltern entsprechend schulen. Wann müssen sie kommen?
Leila Koscher: Am Anfang tatsächlich bei jeder fieberhaften Episode, und das hört auch nicht so richtig auf. Eine ärztliche Vorstellung empfehlen wir jeder Familie, die ein Kind mit Sichelzellkrankheit hat: immer bei Fieber. Bei Kleinkindern ist mir das besonders wichtig.
Axel Enninger: Also noch mal: Jeder Kindergartenschnupfen mit Fieber – zum Arzt?
Leila Koscher: Ja! Ich möchte mich nicht darauf verlassen, dass die Eltern unterscheiden können, ist das ein harmloser Kindergartenschnupfen oder ist das eine invasive Pneumokokkeninfektion? Das kann der Kollege in der Praxis sicherlich gut entscheiden, aber er darf auch weiterschicken, weil es manchmal eine gewisse Dynamik hat, die man noch nicht gut einschätzen kann. Prinzipiell gilt: Ein Kleinkind mit Sichelzellkrankheit darf immer großzügig stationär aufgenommen werden. Wir lassen es gerne nach zwei Tagen wieder nach Hause, wenn sich alles als harmlos entpuppt hat. Fieber ist das eine. Schmerzen – das ist, glaube ich, der Klassiker, darüber müssen wir nicht reden. Wenn die Familie zu Hause mit dem, was wir ihnen an die Hand geben, nicht mehr klarkommen – sie bekommen von uns natürlich Medikamentenpläne und eine große Menge an Dingen, die sie zu Hause tun können – dann sollen sie natürlich auch direkt zu uns in die Klinik kommen. Das ist das, was Sie vorhin angesprochen haben: Diese Patienten brauchen dann schnell ordentliche Dosen Morphin.
Compliance – typisches Teenager-Thema
Axel Enninger: Okay. Vielleicht zum Abschluss für diese Erkrankung: Wenn ich an meine Teenager mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen denke, dann ist Medikamenteneinnahme ehrlich gesagt ein Riesenthema. Wir gehen davon aus, dass von den oralen Dauermedikationen, die wir verordnen, wahrscheinlich nur die Hälfte genommen wird, wenn es gut läuft. Ist das bei Ihren Patienten besser?
Leila Koscher: Ich fürchte, nein. Es wäre ja auch zu schön, wenn es so wäre. Ein paar werden einsichtig, wenn sie ein bisschen schlurig waren mit dem Hydroxyurea waren und merken: ‚Mensch, da bekomme ich ja wirklich mehr Krisen.‘ Aber nicht alle, und das ist ja irgendwo auch verständlich. Als Teenager möchte man nicht krank sein, man möchte auch nicht chronisch krank sein und man möchte nicht zurückstecken müssen gegenüber den anderen in seiner Peergroup. Da ist es oft gar nicht so sehr ein aktives Sich-Dagegen-Wehren oder Dagegen-Entscheiden, sondern ganz oft auch, ja, ein Verleugnen und Nicht-Wahrhaben-Wollen. Und Medikamenteneinnahme gehört eben zum „Wahrhaben“ dazu. Da kommen wir, glaube ich, nur hin, wenn wir mit denen, die sich an uns wenden, gut im Gespräch bleiben und für Verständnis der Krankheit sorgen.
Prognose der Sichelzellkrankheit
Axel Enninger: Wie ist denn die langfristige Prognose, wenn die Patienten unsere kinder- und jugendärztliche Betreuung verlassen haben? Haben sie langfristig ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, solche Dinge? Wie ist denn das?
Leila Koscher: Schlaganfall ist wirklich ein wichtiges Thema. Die Liste der Krankenhausvorstellungen ist ja nicht zu Ende bei Fieber und Schmerzen. Neurologische Symptome müssen ernst genommen werden. Die Sichelzellerkrankung ist weltweit einer der häufigsten Gründe oder sogar der häufigste Grund für einen Schlaganfall im Kindesalter. Tatsächlich nehmen die Probleme im Laufe des Lebens zu. Es ist eine progrediente Vaskulopathie, die zu Organschäden führt. Die Erwachsenenmediziner kennen sich mit anderen Aspekten der Sichelzellkrankheit viel besser aus als wir in der Kinderheilkunde, weil wir es dann erst sehen, weil es erst später manifest wird. Also die Nephropathien, die Retinopathien, die Patienten können Ulzera an den Unterschenkeln bekommen und derlei mehr. Herzerkrankungen, ganz genau, auch sehr wichtig. Wir sind dafür da, oder mit dafür da, dem vorzubeugen und den Patienten und den Familien möglichst gutes Handwerkszeug in den frühen Jahren zu geben, um sich dagegen zu stellen und vorzubeugen so gut es geht.
Axel Enninger: Okay, also nicht nur Therapie, sondern tatsächlich auch Prävention und gucken, dass sie möglichst in ein komplikationsarmes Erwachsenenleben kommen.
Leila Koscher: Ja, denn „komplikationsarm“ ist wirklich das, was sie im besten Fall erreichen können. Komplikationen gibt es eigentlich immer und es gibt gute Studien dazu, wie extrem die Lebensqualität bei Patienten mit Sichelzellkrankheit reduziert ist, sowohl im Kindes- und Jugendalter, aber vor allem dann auch später im Erwachsenenalter. Und das ist vielleicht sogar noch relevanter als die verkürzte Lebenszeit, die sie ja nach wie vor auch noch haben, trotz immer besser werdender Therapiekonzepte.
Thalassämie – zwei Parameter sind bei Anämie richtungsweisend
Axel Enninger: Okay. Ich glaube, da haben Sie bezüglich der Sichelzellerkrankung sehr gut klargemacht, warum Ihnen das so wichtig ist. Wechseln wir mal das Thema. Das hatten Sie vorhin schon so angedeutet: Differentialdiagnose Eisenmangelanämie. Ich gebe Eisen, es wird irgendwie nicht besser. Das MCV ist winzig und dann denke ich: ‚Hm, ist es vielleicht nicht doch etwas anderes?‘ Stichwort „Thalassämie“. Also, wie stellt man die Diagnose, was ist da kaputt und was machen Sie da in der langfristigen Betreuung?
Leila Koscher: Ja, das ist die zweite große Hämoglobinopathie, mit der ich chronisch kranke Kinder bei mir in der Sprechstunde sehe und betreue. Auch das ist ein Defekt des Beta-Globin-Gens, wobei da die Mutationsvielfalt deutlich größer ist. Das ist eine ganz heterogene genetische Grundlage. Allen gemeinsam ist aber, dass gar kein oder zu wenig an Beta-Ketten gebildet wird und es deswegen gar kein oder zu wenig HbA gibt. Und genauso wie bei der Sichelzellkrankheit wird es dann relevant, wenn die HbF-Produktion nachlässt. Das heißt, es sind auch wieder Kleinkinder im ersten Lebensjahr, die mit einer schweren Anämie auffallen. Sie sind blass, sie sind gelb, sie haben eine große Milz, sie sind schlapp und manchmal haben sie auch schon eine Entwicklungs- oder Wachstumsverzögerung, wenn wir sie vorgestellt bekommen
Axel Enninger: Und dann machen Sie was?
Leila Koscher: Dann machen wir natürlich zuerst ein Blutbild mit Retikulozyten wie bei jeder guten Anämie-Diagnostik, schauen ein bisschen links und rechts und werden dann relativ schnell eine Hämoglobinanalyse machen. Und da fällt dann eben auf, dass diese Patienten, wie gesagt, so gut wie kein oder auch manchmal gar kein HbA haben.
Axel Enninger: Im Blutbild gibt es Dinge, wo ich als Niedergelassener hellhörig werde?
Leila Koscher: Ja.
Axel Enninger: Also, meine banalen Laborparameter, Stichwort MCV. Ist das ein Parameter, der mir hilft?
Leila Koscher: Ja klar. Das ist die klassische mikrozytäre Anämie, hypochrom, hyporegenerativ tatsächlich, dadurch relativ ähnlich dem Eisenmangel. Aber es gibt zwei Parameter, die mir schon allein am Blutbild ein bisschen die Unterscheidung zwischen Eisenmangel und Thalassämie zeigen können, gerade wenn wir jetzt an die Minor-Thalassämie, die häufigere Differentialdiagnose denken. Das ist zum einen die Erythrozytenzahl, die ist bei der Minor-Thalassämie häufig erhöht. Und das ist das RDW, also die Verteilungsbreite der Erythrozyten. Das ist durch diese Anisopoikilocytose beim Eisenmangel erhöht, da sind es hohe RDW-Werte und bei der Thalassaemia minor haben wir oft normale Werte, wenn nicht noch ein Eisenmangel oder ein Infekt mit hineinmischt.
Axel Enninger: Das ist ganz blöd, wenn Sie jemanden haben mit einer Thalassämie und einem Eisenmangel. Auch das gibt es ja zum Beispiel bei meinen CED-Patienten und ist manchmal nicht so ganz easy auseinanderzuhalten. Also Diagnosestellung, haben Sie gesagt, dann habe ich entweder eine Minor oder eine Major oder gibt es da irgendetwas dazwischen?
Funktionelle Unterscheidung in transfusions- und nicht-transfusionsabhängige Thalassämie
Leila Koscher: Es gibt der Terminologie nach die Minor, die Major und auch die Intermedia. Inzwischen versuchen wir es aber funktioneller zu unterscheiden. Wir sagen „transfusionsabhängige“ oder „nicht-transfusionsabhängige“ Thalassämie, weil es darauf ankommt: Müssen wir regelmäßig transfundieren, ja oder nein? Und die klassische Minor-Thalassämie, die heterozygote Thalassämie, die müssen wir sicherlich nicht transfundieren, die fallen da hinein – Klammer auf – außer es gibt noch andere Globinstörungen oder andere aggravierende Faktoren seltener Art. Dann gibt es eben die Compound-Heterozygoten oder homozygoten Thalassämieformen und da laufen die meisten als transfusionsabhängige Thalassämie, aber so ein paar eben auch dazwischen.
Axel Enninger: Und wenn jemand transfusionsabhängig ist, ist da die Dynamik bei allen ähnlich oder ist das von Patient zu Patient unterschiedlich? Also ist es typisch, dass ich alle 3 Wochen, alle 4 Wochen eine Transfusion brauche oder ist es variabel?
Leila Koscher: Bei diesem klassischen, ich sag es jetzt noch mal, Major-Thalassämie-Patienten ja. Sie brauchen alle 3 bis 4 Wochen eine Transfusion, später manchmal auch alle 2 Wochen, um eine stabile Hämoglobinkonzentration aufrechtzuerhalten. Und da geht es ja nicht nur um die Anämiekorrektur. Das ist das vorrangige Symptom, damit kommen sie wie gesagt. Aber langfristig geht es ja vor allem darum, diese ineffektive Hämatopoese bei ihnen zu unterdrücken, weil sie sonst zu massiven Problemen, also an der Knochenstruktur, aber auch was extramedulläre Hämatopoeseherde angeht, führt.
Axel Enninger: Das heißt, besonders sparsam sein beim Transfundieren ist in der Situation aus den genannten Gründen nicht besonders schlau?
Leila Koscher: Nee, gar nicht schlau. Man hat ja Sorge vor dieser Eisenüberladung durch die Transfusion. Das ist so ein großes Problem bei ihnen. Sie brauchen auch alle ihre Chelat-Therapie. Aber Transfusionen zu sparen, um die Eisenüberladung zu verringern, ist eigentlich genau der Trugschluss, denn dann kurbeln wir diese ineffektive Erythropoese wieder umso mehr an, und die zieht einfach noch mehr Eisen aus dem Darm, aus dem retikuloendothelialen System und dadurch verschlechtern wir den Eisenstoffwechsel für diese Patienten tatsächlich. Also ein stabiler Ausgangstransfusionswert, Prä-Transfusionswert – da wird inzwischen tatsächlich 9,5–10,5 angestrebt – ist nicht nur für die Lebensqualität der Patienten gut und auch für die Langzeitprognose, sondern tatsächlich auch für den Eisenhaushalt.
Axel Enninger: Dauertherapie haben Sie gerade schon angesprochen. Chelatbildner wegen der Eisenüberladung. Gibt es sonst Dauertherapien? Gibt es Dinge, die man tun kann, dass sie nicht so schnell anämisieren? Das gibt’s nicht, oder? Oder gibt es etwas?
Leila Koscher: Es gibt inzwischen ein zugelassenes Medikament. Allerdings noch nicht im Kindesalter zugelassen, da laufen im Moment noch Studien. Aber für erwachsene Patienten gibt es inzwischen ein neues Medikament, das heißt Luspatercept, und das fördert die Erythrozytenreifung und bei transfusionsabhängigen Thalassämie-Patienten kann damit das Transfusionsintervall tatsächlich verlängert werden. Transfusionsfrei werden sie darunter nicht. Aber wenn man an Transfusionsfreiheit denkt, dann ist man ja irgendwie bei Kuration und da haben Sichelzellkrankheit und Thalassämie ja wieder eine gemeinsame Endstrecke. Es sind alles Patienten, die eine Indikation für eine Stammzelltransplantation haben oder –jetzt relativ neu –auch für eine Gentherapie.
Dauertherapie mit Chelatbildner ist lebenswichtig
Axel Enninger: Okay. Kommen wir noch mal zurück zur Dauertherapie: Eisenüberladung, Stichwort „Chelatbildner“. Gibt es da mittlerweile einen Standard? Ich weiß noch, als ich Assistenzarzt war, da war es a) relativ neu und b) auch irgendwie schwierig herauszufinden, haben sie noch Eisenüberladung, haben sie keine? Ehrlich gesagt ist mein Wissen aber uralt. Wie macht man das denn aktuell?
Leila Koscher: Dafür gibt es auch eine schöne Leitlinie, die uns da ganz, ganz gut hilft. Und im Wesentlichen gibt es 3 Medikamente, die uns zur Verfügung stehen. Das sind 2 orale Präparate mit ein bisschen unterschiedlichen Einnahmemodalitäten und deswegen natürlich auch ein bisschen unterschiedliches Nebenwirkungsspektrum und ein Medikament, das parenteral gegeben werden müsste. Je nach Patient, je nach Situation muss man schauen, womit man am besten fährt. Sie fangen in der Regel alle mit dem Standardpräparat an, das man einmal am Tag geben kann, das ganz gut vertragen wird und das für die Kinder ganz gut funktioniert.
Axel Enninger: Das ist welche Substanz?
Leila Koscher: Das ist Deferasirox und das ist, wie gesagt, ein oraler Chelatbildner, den wir den Kindern am Anfang ganz gerne geben. Im Verlauf muss man sehen, ob man damit klarkommt, ob man auf eine Kombinationstherapie geht, ob eine parenterale Verabreichung vielleicht im Einzelfall auch besser wäre. Und zum Eisenmonitoring haben wir im Prinzip 2 wichtige Parameter. Das eine, ein bisschen einfacher und eigentlich immer ganz gut verfügbar, ist das Ferritin im Blut, das Serumferritin. Es ist aber auch störanfällig, das kennen wir als Akute-Phase-Protein und deswegen werbe ich immer dafür, es so oft wie möglich zu bestimmen. Wir machen das tatsächlich eigentlich standardmäßig bei jeder Transfusion mit, weil man dann tatsächlich die Ausreißer besser herauslesen kann und eine bessere Verlaufsbeobachtung kriegt. Genauer mit dem Gesamtkörpereisen korreliert aber das Lebereisen. Das wird über eine MRT-Diagnostik bestimmt und das versuchen wir bei den Kindern einmal im Jahr zu machen, um zu sehen, wo wir mit der Chelat-Therapie stehen. Dann wissen wir anhand des Ferritin-Verlaufs, geht es weiter in die richtige Richtung, stagnieren wir oder müssen wir es vielleicht sowieso noch einmal ganz überdenken?
Axel Enninger: Was ist denn das klinische Problem bei einer Eisenüberladung? Was macht denn das?
Leila Koscher: Die Eisenüberladung macht tatsächlich vor allem endokrine Probleme. Die Hormondrüsen sind sehr anfällig dafür. Es können dann also Schilddrüsenprobleme sein, Diabetes, aber auch Wachstumsstörungen und Hypogonadismus. Daneben kann es die Leberstruktur schädigen. Da gibt es dann später ein erhöhtes Karzinomrisiko. Die gefürchtetste Komplikation ist aber eigentlich die myokardiale Eisenüberladung. Sie kann zu Herzrhythmusstörungen und auch Herzinsuffizienz und Todesfällen führen. Deswegen ist ab dem jugendlichen Alter neben der Lebereisenmessung auch noch die MRT-Herzeisenmessung ein ganz wichtiger Parameter, den wir bestimmen.
Stammzelltransplantation als Lösung, Gentherapie als neue Chance
Axel Enninger: Okay. Es tut am Anfang erstmal nicht weh, so viel Eisen an Bord zu haben. Das macht es mit der Compliance dann auch immer nicht so richtig einfach. Dann lassen Sie uns vielleicht noch mal einen Ausblick in die Zukunft machen. Wie viel Realität ist denn schon die Stammzelltransplantation bzw. Gentherapie bei den beiden Krankheiten, über die wir jetzt am meisten gesprochen haben?
Leila Koscher: Die Stammzelltransplantation ist Realität. Die gibt es und ist seit Jahrzehnten gut etabliert. Damit gibt es gute Erfahrungen, auch Langzeiterfahrungen. Das können wir guten Gewissens für Patienten anbieten.
Axel Enninger: Allen?
Leila Koscher: Eben leider nicht. Wir brauchen einen verfügbaren Spender und das ist gerade bei der ethnischen Diversität unserer Patienten nicht immer ganz einfach. Gerade für die Sichelzellkinder finden wir nicht immer gut einen Fremdspender. Wenn wir Glück haben, gibt es ein gesundes Geschwisterkind, dann ist die Sache deutlich einfacher. Wenn wir eine Fremdspendersuche einleiten, ist die Erfolgsquote natürlich teilweise recht bescheiden. Dazu kommt aber auch, dass es nicht der richtige Weg für alle Familien ist. Eine Indikation haben die Patienten alle. Da muss nicht erst eine schwere Komplikation der Sichelzellerkrankung eingetreten sein, sondern wir bieten es an und besprechen es wirklich mit allen Familien. Aber es ist eine chronische Krankheit, die jetzt nicht unmittelbar mit einem Versterberisiko einhergeht, zumindest nicht in den Augen der Eltern eines jungen Kindes. Sich dann für eine doch auch komplikationsreiche Therapie zu entscheiden und das Kind einem akuten Risiko auszusetzen, ist natürlich etwas, was Eltern nicht leicht fällt.
Axel Enninger: Bei der Thalassämie ist es ähnlich, oder was kann man da anbieten?
Leila Koscher: Ja, also auch da ist die Stammzelltransplantation für alle vorgesehen, sofern es denn einen Spender gibt. Und da ist es vielleicht sogar noch schwieriger. Bei Eltern, die ihr Kind schon mal beatmet auf der Intensivstation bei einem Thorax-Syndrom bei Sichelzellerkrankung haben liegen sehen, ist das etwas anderes. Sie verstehen die Brisanz. Aber ein Kind, das eben alle drei Wochen bei uns die Transfusion kriegt, die Chelat-Therapie vielleicht auch ganz gut macht, da ist es natürlich auch noch mal eine andere Überlegung der Risikoabwägung. Genau.
Axel Enninger: Stichwort „Gentherapie“?
Leila Koscher: Die gibt es jetzt neu zugelassen für Kinder ab 12 Jahren in Deutschland, für beide Entitäten, für beide Hämoglobinopathien. Das geht jetzt gerade erst los. Es gibt jetzt ein paar Zentren mit wenigen Plätzen pro Jahr. Da werden wir noch viel lernen in den nächsten Jahren: Wer profitiert gut davon, wem tut es gut, wem können wir damit gut helfen? Aber es ist natürlich die Chance für die Kinder, wo wir alle sehen, dass sie eine Kuration brauchen und wo es keinen Spender gibt.
Axel Enninger: Sehr gut. Immer schön zu hören, dass es Optionen gibt und dass man sagen kann, da gibt es möglicherweise Dinge, die sich in die positive Richtung im Sinne unserer Patienten entwickeln. Wenn Sie unseren Podcast schon mal gehört haben, dann wissen Sie, dass es ein Standard-Element gibt, und dieses Standard-Element heißt „Dos & Don’ts“. Sie dürfen Dinge an die Kolleginnen und Kollegen loswerden, wo Sie sagen: „Ah, bitte lasst es, bitte macht es nicht.“ Oder Sie dürfen es positiv sagen: „Bitte unbedingt!“ Sie dürfen es auch kombinieren, die Reihenfolge bleibt Ihnen überlassen. Sie dürfen loslegen.
Retikulozyten, Sichelzell-„Krankheit“, nicht „benigne“, Schmerzen und Krisen ernstnehmen, Augenmerk und Beziehung für „Chronische“
Leila Koscher: Dann fange ich vielleicht mit den Don’ts an, vielleicht um positiv enden zu können. Bitte keine Anämie-Diagnostik ohne Retikulozyten, um kurz etwas Fachliches noch mal einzustreuen. Und bitte nicht Sichelzell„-anämie“ sagen und die Hämatologie bitte nicht verallgemeinert „benigne“ nennen. Das wird der Lebensrealität dieser Patienten nicht gerecht. Und ein fachliches Do wäre: Sichelzellpatienten gerade bei Schmerzen, aber auch in anderen Krisensituationen ernst nehmen. Ein bisschen weiter gefasst vielleicht Werbung dafür machen, dass es sich gerade im Kontext von einem großen und vielseitigen Fachgebiet lohnt, ein Gespür für die leiseren Seiten zu entwickeln, also den Blick bewusst auch auf die weniger akuten, aber langfristigen Aspekte zu lenken. Und da dann auch mal Zeit für Beziehungsarbeit zu investieren, weil sich das gerade bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen auszahlt.
Axel Enninger: Sehr schön, das finde ich, kann man auch als schönes Schlusswort für viele andere chronische Erkrankungen nehmen. Vielen herzlichen Dank für das, wie ich finde, sehr interessante und aufschlussreiche Gespräch. Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, vielen herzlichen Dank fürs Zuhören. Wir freuen uns wie immer über Bewertungen, natürlich über positive Bewertungen auf den üblichen Foren. Wir freuen uns auch über Rückmeldungen und über Vorschläge zu Themen und zu GesprächspartnerInnen. Und wie immer: Bleiben Sie uns gewogen.
Hilfreiche Informationen:
Leitlinien:
AWMF (2020) Sichelzellkrankheit. AWMF-Registernr. 025/016. Entwicklungsstufe S2k. https://register.awmf.org/assets/guidelines/025-016l_S2k_Sichelzellkrankheit_2020-12.pdf.
AWMF (2021) Eisenmangelanämie. AWMF-Registernr. 025-021, Entwicklungsstufe S1. 025-027, https://register.awmf.org/assets/guidelines/025-021l_S1_Eisenmangelanaemie_2021-11.pdf
AWMF (2024) Anämiediagnostik im Kindesalter. AWMF-Registernr. 025-027, Entwicklungsstufe S1. https://register.awmf.org/assets/guidelines/025-027l_S1_Anaemiediagnostik-im_Kindesalter_2024-06.pdf
(*) Impfempfehlungen bei Asplenie:
Impfschemata (Stand 01/2025): http://www.asplenie-net.org/ (Reiter wählen à für Ärzte à Impfempfehlungen)
International:
Thalassaemia International Federation: https://thalassaemia.org.cy/
Links und Ratgeber:
Gut verständliche Ratgeber / Leitfäden für Patienten und Familien, Informationen für Behandler, Links und mehr: www.kinderblutkrankheiten.de
Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH), GPOH Konsortium SCD: https://www.sichelzellkrankheit.info/
Patienten-Selbsthilfegruppe Interessensgemeinschaft SCD und Thalassämie: https://www.ist-ev.org/
Website und Youtube-Kanal zu Thalassämie: thalasandme.de
Kontakte:
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Verantwortlich für den Inhalt: Dr. Markus Rudolph
Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!
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