consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #61 - 25.07.2025
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
unrare.me – mit Schwarmintelligenz den Zufall überlisten
Axel Enninger: Mein Gast heute ist
Prof. Dr. Lorenz Grigull
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.Kardiologie in der pädiatrischen Praxis
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gesprächspartner heute ist Professor Lorenz Grigull, und wir reden heute darüber, wie man zusammen vernetzt besser werden kann. Dieses Motto würde ich einmal ausrufen. Herzlich willkommen, lieber Lorenz.
Lorenz Grigull: Herzlichen Dank, dass ich hier sein kann.
Axel Enninger: Ja, sehr gerne. Ich stelle dich kurz vor. Professor Grigull ist der Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen in Bonn. Er ist Facharzt für Kinderheilkunde mit dem Schwerpunkt Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, und er hat sich selbst mit dem Themenvorschlag hier gemeldet. Aber wir reden explizit heute nicht ausschließlich über seltene Erkrankungen, das ist uns, vorneweg, glaube ich, ganz wichtig, aber wir reden vielleicht auch ein bisschen über seltene Erkrankungen. Im Vorfeld hattest du gesagt: „Mein Ziel ist es, den Zufall zu überlisten.‘
Lorenz Grigull: Das hast du schön gesagt und dir schön gemerkt.
Axel Enninger: Was meinst du damit?
Lorenz Grigull: Damit meine ich das, was Patientinnen und Patienten uns erzählen. Sie sind symptomatisch und sagen: ‚Ich war beim Hals-Nasen-Ohrenarzt, ich war bei meiner Kinderärztin, ich war beim Orthopäden, ich war bei der Ernährungsmedizinerin und alle hatten gute Empfehlungen, aber eine Fehldiagnose. Dann kam „Detektiv Zufall“ und ich saß noch nicht bei Doktor Punktpunktpunkt oder Ärztin Punktpunktpunkt auf dem Stuhl und die wusste sofort, was ich habe.‘ Und diesen Zufall, der Patientinnen und Patienten ohne Diagnose viel Kummer bereitet, den möchte ich überlisten, indem wir besser netzwerken.
Axel Enninger: Okay, das heißt, es geht schon darum zu gucken, dass man Diagnosen früher und besser, schneller, stellt.
Lorenz Grigull: Ich finde, das ist in unserem Beruf und für unsere Patientinnen und Patienten ein zentrales Anliegen, ja.
Axel Enninger: Da kann man jetzt sagen: „Na ja, dafür gibt es ja Zentren für seltene Erkrankungen. Da schreiben wir eine Anmeldung und damit haben wir unseren Job getan.“ Aber du möchtest gerne noch ein Schrittchen weitergehen.
Fragmentiertes Wissen bündeln
Lorenz Grigull: Ja, ich möchte gerne viele Schritte weitergehen. Die Zentren für seltene Erkrankungen sind eine schöne Erfindung. Ich finde auch deine Kinderkliniken eine tolle Erfindungen, ich finde auch HausärztInnen und Kinderärzteniederlassungen eine tolle Erfindung. Aber unterm Strich arbeiten wir doch alle mehr oder weniger auf einer Insel und alleine. Das Wissen ist auch fragmentiert und den Patientinnen und Patienten kann noch nicht zeitgemäß geholfen werden.
Axel Enninger: Wie denkst du, kann man dieser Fragmentierung entgegenwirken?
Lorenz Grigull: Indem wir diese Fragmente zu einem großen Ganzen zusammensetzen.
Axel Enninger: Und das machen wir mit einer neuen Plattform, einer App?
Lorenz Grigull: Zum Beispiel. Ich möchte gerne die Gelegenheit und das Gespräch mit dir nutzen, darauf aufmerksam zu machen, dass ich es komisch finde, dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden, wenn es darum geht, gebrauchte Klamotten zu verkaufen oder Hunde-Gassi-Gehgruppen zu finden, auf Facebook, auf WhatsApp. Aber dass wir unsere Gesundheit mit Fax und Telefonaten organisieren, finde ich altertümlich und traurig.
Axel Enninger: Okay, da kann ich nur zustimmen und ich glaube, jeder, der im Gesundheitswesen arbeitet, kann das ausgesprochen gut verstehen. So, deine Idee heißt „unrare.me“ und deine Idee ist ja nicht nur eine Idee, sondern sie ist schon ein laufendes Projekt. Aber vielleicht kriegen wir durch diesen Podcast das Projekt noch ein bisschen schneller ans Laufen. Erzähl mal von unrare.me.
Tinder für Menschen ohne Diagnose, Experten, Betroffene
Lorenz Grigull: Ja, gerne. Zur Wahrheit gehört, es ist nicht meine Idee, sondern es gibt viele Mütter und Väter von unrare.me und ich bin stolz, einer der „Mitväter“ oder „Mitonkel“ zu sein. Also unrare.me ist eine App, eine Vernetzungsidee, ein Tinder für Leute ohne Diagnose, ein Netzwerk, auf dem sich sowohl Betroffene, also Patientinnen und Patienten, Experten, also Leute wie du und ich, Angehörige oder auch Netzwerkgruppen, also Selbsthilfegruppen treffen, organisieren, anmelden und austauschen können. Und du hattest ja eben gerade gesagt, Thema Diagnose, das ist ein Aspekt. Wir wissen beide sehr genau, dass es mit der Diagnose beileibe nicht getan ist, sondern dass es danach weiterhin viele Herausforderungen gibt, über die man sich austauschen kann.
Axel Enninger: Okay, und wie lange arbeitet ihr schon dran?
Lorenz Grigull: Die Geburtsstunde von unrare.me war ein Dissertationsprojekt von Lara Kühnle. Sie hat damals als Medizinstudierende in Hannover gearbeitet, und wir beide haben den Prototyp von unrare.me entwickelt. Dann kam vor zweieinhalb Jahren Henriette Högl vom Kindernetzwerk auf mich zu und hat gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr gemeinsam, also dem Kindernetzwerk und anderen Menschen, unrare.me richtig zu einer App zu machen. Seitdem ist die Designagentur 99° aus Wiesbaden dabei, Ralf Schmidt, Lara, Justus und eben das Zentrum für Seltene Erkrankungen am Uniklinikum Bonn. Ach so, Entschuldigung, fast hätt ich Gundula Ernst von der Medizinischen Psychologie der Medizinischen Hochschule und das Team vom Fraunhofer Institut vergessen.
Axel Enninger: Okay, und falls du noch jemanden vergessen hast, dann entschuldigen wir uns jetzt hier schon mal proaktiv. Genau. Also so etwas geht nur gemeinsam, es startet mit einem Netzwerk, das ist ja schon einmal ganz wichtig. Jetzt kann ich mir das immer noch nicht so genau vorstellen. Bei Tinder, weiß ich, da gibt es sozusagen Menschen, die andere Menschen suchen, aber es ist ja irgendwie komplizierter als Tinder, euer unrare.me, weil es um Patienten geht, Patienten-Selbsthilfegruppen. Es geht um Grundlagenforscher, es geht um Anwender, es geht um Hausärzte, und es geht um alle möglichen Erkrankungen. Das ist ja ein riesiger Wust von Infos, von Vernetzungsmöglichkeiten. Wie geht denn das?
Lorenz Grigull: Vielleicht hat es deswegen auch noch keiner versucht, weil alle, so wie du, gesagt haben: ‚Wie soll das funktionieren, das ist doch viel zu kompliziert.‘ Also: Patientinnen und Patienten geben Symptome ein, geben Diagnosen ein, können auch angeben, wo die Beschwerden sind, und dann haben wir eben das genannte Team von Fraunhofer, Armin und Max, die mit klugen mathematischen Algorithmen und Schachzügen die richtigen Matches zusammentun. Zusätzlich liegt der Zauber der KI natürlich immer in den Informationen, die zur Verfügung stehen. Das ist bei Tinder genauso wie bei Instagram, wie bei TikTok. Man braucht Informationen, um die richtigen Menschen zusammenzubringen. Wenn beispielsweise du als Kinder-Gastroenterologe dich anmeldest, kannst du dort bei uns, bei unrare.me angeben, welche Krankheiten bei dir im Wartezimmer sitzen, salopp formuliert, also, welche Patientinnen und Patienten du betreust. Das sind dann wiederum Informationen, die dir helfen können, als Kinder-Gastroenterologe mit anderen Kindergastros – oder vielleicht passt du ja eigentlich auch gut zu Logopädinnen und Logopäden, die nicht auf den ersten Blick mit dir vernetzt sind und zu Angehörigen, die sich fragen, wie macht man es eigentlich mit einer PEG, wenn die 3 Monate drin liegt und immer noch gerötet ist. Also diese Quervernetzungen, die so naheliegend sind, können wir über den Anmeldeprozess bei unrare.me abbilden und dadurch die richtigen Leute zueinander matchen.
Die Funktionalitäten bleiben im Fluss, Datenschutz geht vor
Axel Enninger: Okay, und das ist, wenn ich das richtig verstehe, eine lernende KI mit primär einem programmierten Algorithmus?
Lorenz Grigull: Ja, also das sind immer „wachsende Organismen“. Und wir bekommen ja auch Feedback von den Nutzenden der App – aber auch mittelbar – aufgrund dessen wir natürlich sowohl die Algorithmen anpassen, aber auch die Informationen, die wir erfassen, anpassen und dadurch verändert sich das Biotop. Wir bitten beispielsweise die Nutzenden, ihren Match zu bewerten und versuchen, daraus, wie jedes soziale Netzwerk, im Verlauf besser zu werden für die Nutzenden.
Axel Enninger: Jetzt sehe ich eine ganze Reihe von Möglichkeiten der Vernetzung. Lass es uns doch einmal an einzelnen Beispielen machen, in unserer Szene, der Kinder-Gastroenterologie zum Beispiel. Wir sind auf Siilo miteinander vernetzt und da geht es im Wesentlichen darum, dass da Fälle eingestellt werden und jemand sagt: ‚Hier, hat einer noch eine Idee?‘, oder: ‚Wir sind therapeutisch da und da, hat einer therapeutisch noch eine Idee?‘, und dann wird dieser Chat quasi nach Fällen geclustert, und dann kann jeder darauf antworten. So nutzen wir es und benutzen diese eine genannte App, weil wir eben nicht WhatsApp benutzen wollen und gucken, dass es möglichst datensicher ist. Wäre so etwas möglich auf unrare.me?
Lorenz Grigull: So etwas ist jetzt schon möglich und wäre die Funktion „Gruppenchat“ – wobei ich damit nicht zufrieden bin, weder mit der Funktion auf Siilo noch mit dem Gruppenchat bei unrare und das liegt daran – wir sind beide schon ältere Semester und wir wissen, viel Zauber liegt in der Patientenvorstellung und in der Struktur und viel Abrieb und Redundanz liegt darin, dass Patienten unterschiedlich oder nicht optimal vorgestellt werden, dass wichtige Informationen fehlen. Dieses Feature möchte ich und werden wir dieses Jahr, allerspätestens Q1 nächstes Jahr, so bei unrare abbilden, dass man den schwierigen Patienten dort vorstellen kann und man dann Diskussionsgruppen bei unrare datenschutzkonform haben kann.
Axel Enninger: Erster Schritt ist wahrscheinlich eine entsprechende datenschutzkonforme und vernünftige Anmeldung, weil ihr ja gucken wollt, dass sich da nicht irgendein Hacker aus China sich anmeldet. Wie macht ihr das?
Lorenz Grigull: Also, Hacker wird es immer geben, solange es Plattformen gibt. Das Einzige, was man machen kann, ist, dass man sich natürlich an die Gesetze hält und im Kontext der Anmeldungen von Fachpersonal ist es so: Man muss Angaben machen und uns auch ein Dokument vorlegen, aus dem hervorgeht: Jawoll, Herr Grigull ist wirklich Kinderarzt oder zumindest Arzt. Erst dann bekommt er in unrare auch das Zertifikat, dass er ein nachgewiesener Healthcare Professional ist. Wir haben auch Leute schon darauf hingewiesen, dass ihr Dokument nicht ausreicht, um in diesen Status zu kommen. Das Zweite ist, Gesundheitsdienstleistende sind bei unrare mit Klarnamen unterwegs. Das heißt im zweiten Schritt, ich kann immer sehen, ob es diese Person überhaupt gibt. Ich hatte zum Beispiel einmal einen Namensvetter, der sich angemeldet hatte. Das war der geschätzte Kollege Lorenz Kiwull, und da dachte jemand: ‚Da hat sich wohl jemand einen Spaß erlaubt und mit so einem Spaßnamen angemeldet.‘ Aber den gibt es wirklich, das ist ein Neuropädiater aus München, den ich über unrare jetzt kennengelernt habe. Das heißt, wir gehen dem schon nach. Deswegen ist es aus meiner Sicht sicherer als andere Möglichkeiten oder andere soziale Medien, die derzeit verfügbar sind.
Als Patient zu 100 % anonym, Use Cases und Netiquette
Axel Enninger: Also nur noch einmal, dass ich es wiederhole: Healthcare Professionals müssen nachweisen, dass sie solche sind und sie treten immer im Klarnamen auf, korrekt? Und wie ist es jetzt mit Patientinnen und Patienten?
Lorenz Grigull: Sie besorgen sich am Anfang des Anmeldeprozesses einen sogenannten Avatar, also eine anonyme Identität, mit der sie dann bei unrare unterwegs sind. Da ist es so wie überall, wo man anonym unterwegs ist, es gibt vielleicht am Ende eine IP-Adresse, aber letztlich sind diese Personen für uns nicht „nachvollziehbar“, und das ist auch unser Qualitätsversprechen.
Axel Enninger: Das heißt also, als Patient kann ich sagen, ich bin da anonym. Das ist sozusagen positiv, weil ich nicht zurückverfolgt werden kann. Wenn ich mich kritisch zu meinem betreuenden Arzt äußere, dann habe ich da keine Sorgen zu erwarten. Umgekehrt heißt das natürlich auch, wenn ich da anonym unterwegs bin, habe ich jede Möglichkeit, Schindluder zu treiben. Ist das ein Problem bei euch auf der Plattform oder nicht?
Lorenz Grigull: Bislang nicht. Das klingt für mich nach dem Arzt-Bashing-Phänomen oder Ärzte-Bashing-Phänomen in den einschlägigen Bewertungsportalen, die degeneriert sind zu einem Ort, um sich über Anmeldeprozesse und unfreundliches Personal zu beschweren. Das ist gar kein Use Case von unrare. Der Use Case von unrare ist, dass ich mich mit Behandlern austausche. Ich rede nicht über meinen Behandler, sondern ich rede mit jemandem, der auch gerne bereit ist zu reden. Ich nehme das typische Beispiel: Ich habe gerade Leerlauf, ich sitze an der Bushaltestelle und ich sehe bei unrare eine Anfrage, die zu mir passt wie „Arsch auf Eimer“. Dann kann ich zu dieser Anfrage schnell etwas sagen. Ich oute mich als Lorenz Grigull und kann meine Informationen, mein Wissen teilen. Es ist noch nie vorgekommen – unrare gibt es jetzt knapp anderthalb Jahre – dass darüber ein Shitstorm gestartet wäre, so nach dem Motto: „Was hat der Grigull denn da schon wieder geschrieben?“ Überhaupt nicht. Wir haben aber auch eine Netiquette, also freundlich gemeinte Hinweise, was wir bei uns wollen und was wir nicht wollen.
Axel Enninger: Okay. Sag mal so ein paar Beispiele vielleicht.
Lorenz Grigull: Wir wünschen uns einen wertschätzenden Umgang. Feedback ist erwünscht, aber Feedback erfolgt nach den Sandwich-Regeln, dass man mit etwas Positivem anfangen kann, dann die Kritik kommt, und man auch mit einem konstruktiven Kommentar enden kann. Das wären zwei einfache Beispiele.
Axel Enninger: Also, das finde ich auch ganz wichtig. Ich habe mich da, glaube ich, einmal bei euch angemeldet, bin aber kein Nutzer. Ich glaube, in dem Moment, wo ich da zweimal von der Seite schräg angesprochen werde würde, hätte ich auch ganz schnell keine Lust mehr. Könnte ich mich irgendwie wehren, wenn ich sage: ‚Also, hör mal, jetzt bin ich da zweimal wirklich schräg von der Seite angemacht worden. Da habe ich wenig Lust, dass mir das weiter mir passiert‘?
Lorenz Grigull: Auf jeden Fall. Da bitte ich dich drum! Wenn du als Nutzer bei unrare schräg von der Seite angequatscht wirst, bitte ich dich zu sagen, von wem das ist. An uns; die Mailadresse ist schnell zu finden, oben rechts in der App. Dann kontaktieren wir diese Person, die dich schräg von der Seite angesprochen hat. Wir versuchen, den Sachverhalt zu klären, und wenn wir keine Reaktion oder keine angemessene Reaktion bekommen, fliegt dieser schräg von der Seite rempelnde Stinker aus unrare raus.
Perspektive: Statt das Rad neu zu erfinden, teilen, zusammenführen
Axel Enninger: Okay. Du hast gesagt, ihr seid jetzt seit anderthalb Jahren unterwegs. Wie viele Nutzer habt ihr denn so und gibt es eine angestrebte Zahl oder ist das alles nach oben offen?
Lorenz Grigull: Also, als wir das Vorgespräch hatten, waren wir bei 4.000 und jetzt sind wir knapp bei 5.000. Es geht also weiter kontinuierlich hoch und wir wollen kontinuierlich wachsen. Wir sind kein Geschäftsunternehmen mit Quartalszahlen und deswegen kann ich jetzt nicht sagen, in zwei Jahren wollen wir die 100.000 geknackt haben. Das wäre schön und wünschenswert und wir arbeiten daran, so wie heute hier bei dir. Aber da müssen wir auch ehrlich sein: Wir haben alle andere Hauptberufe und sehen das als Teil unserer Arbeit und hoffen einfach, dass am Ende die Qualität und das gute Gespräch darüber wirkt.
Axel Enninger: Ich hatte vorhin uns Kinder-Gastroenterologen als Beispiel für Falldiskussionen genannt. Was ja viele niedergelassene Kinderärztinnen und Kinderärzte haben, sind Qualitätszirkel. Also Austausch von erstens Basisinformationen: ‚Wir treffen uns live und vor Ort in der Ärztekammer XYZ um soundso viel Uhr‘, aber auch Informationen, Behandlungsstandards aus dem Olgäle, die zum Beispiel in Stuttgart kursieren. All solche Dinge werden auf den Qualitätszirkeln besprochen. Würdest du da eine Rolle für unrare.me sehen?
Lorenz Grigull: Auf jeden Fall. Genauso wie sich eigentlich jede andere Organisation auch bei unrare.me zukünftig besser aufstellen könnte, sehe ich auch diese Funktion bei den Qualitätszirkeln: Um Neuigkeiten auszutauschen oder auch, um schwierige Patienten zu diskutieren. Ich muss gestehen, diese Diskussion schwieriger Patienten habe ich seltener im Qualitätszirkel erlebt als andere Sachen. Das ist doch eher ein Ort, wo Fortbildung Raum hat, wo organisatorische Sachen besprochen werden. Ich habe noch keinen perfekten Ort für den schwierigen Fall im Internet gefunden, auf keiner Plattform. Obwohl uns allen dieser schwierige Patient, dieser Patient, wo wir ein Bauchgefühl haben, viel Kopfzerbrechen macht. Deswegen ist es für mich ein erklärtes Wunschziel, dafür einen Ort bei unrare zu machen. Ich habe dir ja schon gesagt, der geschlossene Gruppenraum ist eine Möglichkeit, die schon jetzt verfügbar wäre, die ich nicht optimal finde, aber wir werden zukünftig eine bessere Funktion dafür bei unrare haben.
Axel Enninger: Okay, da habe ich so das Gefühl, es sind zwei Teile. Oft sind es organisatorische Sachen wie „Abrechnungsziffer Schnickschnackschnuck“ hat sich verändert oder solche Dinge, aber auch Dokumente teilen. Und häufig in den Kaffeepausen finden Dinge statt wie: „Ich hab da übrigens einen…“. Das würde beides gehen. Und was wir im Vorfeld auch schon mal besprochen hatten: Du hast gesagt, Dokumente teilen und nicht jeder muss das Rad neu erfinden, wäre zum Beispiel auch eine gute Möglichkeit über unrare.me. Also Stichwort: SOPs teilen, Standards teilen. Jetzt wieder ein kinder-gastroenterologisches Beispiel: der Bauchschmerzfragebogen, den wir bis jetzt über unsere Homepage der Fachgesellschaft verteilen – kleiner Werbeblock: www.gpge.eu. Da gibt es den. Aber grundsätzlich könnte man all so etwas auch bei unrare hinterlegen, oder?
Lorenz Grigull: Auf jeden Fall. Im Grunde berührst du natürlich gerade genau diesen Aspekt, den wir am Anfang hatten. Die meisten Sachen sind auffindbar. Hoffentlich hat jetzt auch der Letzte die Fachgesellschaft für Kinder mit Bauchproblemen gehört und gelernt. Aber es wird immer wieder Leute geben, die sagen: ‚Wow, was für eine tolle Homepage, was für wunderbare Informationen!‘ Und deswegen komme ich auch wieder an dieser Stelle zum Anfang: Warum nicht einen Ort des Netzwerkens für Gesundheit? Das ist also dann meine Werbebotschaft für unrare.me, das gemeinsam zu einem Ort zu machen, der das schaffen kann – nicht, um die anderen kaputt zu machen, sondern um sie alle zusammenzuführen.
Axel Enninger: Du hast gesagt, es gibt ja viele Informationen im Internet und wir finden sie alle nicht, weil wir nicht so genau wissen, wo sie denn sind. Ich übe gerade, KI für sowas zu benutzen, also das Google-Tool oder ChatGPT versuche ich dafür zu benutzen. Ist so etwas grundsätzlich denkbar, dass ich stattdessen unrare.me aufmache und sage: „Finde mir einen Fragebogen für chronische Bauchschmerzen bei Kindern“? Geht das? Gibt’s das?
Lorenz Grigull: Nein. Also, die kurze Antwort ist nein, und die etwas längere Antwort: Es ist vermessen. Wie können wir – wir haben eine Drittmittelförderung vom BMG und sind jetzt Leute, die das Herz am rechten Fleck haben und die sich engagieren. Wie viele Milliarden stecken hinter OpenAI und den Menschen, die versuchen, dem etwas entgegenzusetzen? Nichtsdestoweniger ist ja die Frage, die du und ich uns stellen können: Okay, will ich Meta und Konsorten helfen, noch mächtiger zu werden, oder möchte ich einen datenschutzkonformen Kosmos mitgestalten, der sicher ist, der zuverlässig wirkt, der nicht manipuliert werden kann von extern? Und da würde ich sagen, so wie wir es jetzt bei ChatGPT erleben, das ist jetzt schon mächtig und alle bekommen rote Ohren, wenn sie merken, was damit alles möglich ist. Wir merken auch alle die Grenzen, und die Grenzen sind auch gut. In Publikationen, aktuell immer wieder dokumentiert, dass da halluziniert wird, dass da manipuliert wird, dass da ein Gender-Bias ist, ein Rassen-Bias. Aber es ist sehr vollständig, und das ist Fluch und Segen zugleich. Wir können bei unrare.me sehr viel enger kuratieren, welche Informationen wir dann KI-basiert nutzen wollen. Daran arbeiten wir und dafür haben wir auch das Fraunhofer-Institut mit an Bord.
Axel Enninger: Hilf mir noch mal, mir vorzustellen, wie wir SOPs, die jeder von uns in der Klinik hat, und zwar viele davon hat – also jede Notaufnahme hat Unmengen von SOPs, jede Fachabteilung hat Unmengen von SOPs – und du hattest im Vorfeld gesagt, nicht jeder muss das Rad neu erfinden, was ich auch total wichtig finde. Wie muss ich mir das dann bei unrare.me vorstellen?
Lorenz Grigull: Also ein einfaches Beispiel. Kinder-Neonatologien schließen sich in einer Gruppe bei unrare zusammen. Das können sie gerne in einer geschlossenen Gruppe, weil sie sagen, das sind Dokumente, die soll nicht jeder kriegen, da ist vielleicht auch ein Copyright-Issue, da steckt Arbeitszeit dahinter. Dann kann man in dieser Gruppe Dokumente hochladen und dann kann nur diese Gruppe diese Dokumente lesen, sehen und selber herunterladen. Das wäre ein ganz simpler Use Case, der auch schon jetzt bei unrare nutzbar ist und der auch genutzt wird. Also wir haben Gruppen, zum Beispiel in der LGG-Gruppe (Low Grade Glioma), in der wurde der Flyer von einem aktuellen Symposium heruntergeladen und ich glaube, eine aktuelle SOP zur Bestrahlung bei bestimmten niedriggradigen kindlichen Tumoren wurde hochgeladen, um darauf aufmerksam zu machen.
Als Arzt von der Fachperson eine Ergänzung zum Befund erhalten
Axel Enninger: Okay, also das ist so eine Gruppengeschichte, das Ganze offen gedacht. Dann war das Stichwort „Schwarmintelligenz“ noch einer eurer wesentlichen Punkte. Da erlebe ich so ein paar Dinge, wo ich manchmal scheitere. Also, wir versuchen im Alltag eine seltene Diagnose zu stellen, wir fragen die Genetiker: ‚Denkst du, du könntest uns da mit genetischer Diagnostik helfen?‘, und der Genetiker sagt: ‚Ja, kann ich machen.‘ Oder: ‚Ja, das Institut XYZ macht diese Diagnostik noch besser.‘ Und dann kriege ich einen genetischen Befund, der geht irgendwie über 5, 6, 7 Seiten und es steht drin, diese Mutation ist zweimal beschrieben, einmal mit klinischer Relevanz, einmal ohne klinische Relevanz, und ob vielleicht die Heterozygotie da noch irgendeine Rolle spielt, ist unklar. So, dann habe ich viel gemacht und denke: ‚Hey Freunde, was mache ich jetzt damit?‘ Kann unrare helfen?
Lorenz Grigull: Ja, unrare.me kann dir in der Situation genauso helfen wie jeder liebe, klinische Humangenetiker. Das heißt, so wie du das auch kennst: Es gibt Menschen, Experten, die gerne in den Dialog treten. Das kenne ich meinetwegen von klinischen Mikrobiologen. Wenn man da so einen komischen Abstrich oder Blutkulturbefund hat und dann fragt: ‚Hey, ist das jetzt relevant oder nicht?‘ Das ist ja nichts anderes, und dann ruft man den klinischen Mikrobiologen an und sagt: ‚Hier, der und der Patient, die Probennummer, sag mal was dazu.‘ Und dann fangen sie an zu erzählen. Das ist dann die Ergänzung zu dem Befund, der in Schriftform immer rechtssicher oder, keine Ahnung, gerichtsfest sein muss. Und dann lernt man dazu und bekommt die Erklärung. Genauso kenne ich das von einem Radiologen, der mir manchmal erklärt, welche Methode und warum und wieso er jetzt nicht schreiben konnte, dass das nicht metastasenverdächtig ist oder eben doch. Und so geht das auch mit der Humangenetik. Das heißt, eben diesen Befund, den kannst du in deine zu gründende unrare.me-Gruppe stellen. „Erklär mir meinen Genetik-Befund bei unrare.me“, eine tolle Gruppe, wo man seine Frage stellt.“ Natürlich darauf achten, dass man jetzt nicht ohne Weiteres Patientendetails teilt, würde ich jetzt an dieser Stelle sagen, obwohl wir ja die Hand drauf haben, wer mitliest. Aber das ist ein anderes Thema, das wir vielleicht noch in einer zweiten Frage berühren dürfen. Aber grundsätzlich zu sagen: ‚Ich habe einen Befund, den ich nicht verstehe, hilf mir weiter!‘, das ist ja ein alter Hut und deswegen gibt es im Übrigen ja auch schon diese „Was-hab-ich“-Initiative aus Hamburg, wo sich Patienten hinwenden können, die ihren Arztbrief nicht verstehen. Jetzt erleben wir, uns geht es genauso wie unseren Patienten. Wir kriegen einen Befund und verstehen es nicht. Also in einem Satz: Ich glaube, es ist einfach, sich mit Humangenetikern bei unrare.me zu vernetzen und dann zum Beispiel im absolut supersicheren 1:1-Chat über einen Befund auszutauschen oder darüber jemanden kennenzulernen, den man im Zweifel auch mal anrufen kann – Stichwort Networking – oder eben eine entsprechende geschlossene Gruppe.
Axel Enninger: Okay, das finde ich schon mal super hilfreich, die Vorstellung, da schreibe ich etwas hinein und dann werde ich verknüpft mit jemandem, der mir da vielleicht helfen kann. Gibt es so eine Gruppe „Hilf mir, die Genetik zu verstehen“ schon?
Lorenz Grigull: Noch nicht, aber ich glaube, heute Abend wird es sie geben. [Lachen]
Was ist mit „krausen Vorstellungen“ oder gar Scharlatanerie?
Axel Enninger: Sehr gut, also das müssen wir aus meiner Sicht. Eine der Überlegungen, die ich noch so hatte: Wenn ich mich da anmelden kann, auch als approbierter Arzt, ist ja nicht gesagt, dass alle approbierten Ärzte auch nach etablierten Standards handeln und denken. Ich sage mal das Stichwort, hier im Großraum Stuttgart gibt es eine Initiative von Eltern, die denken, ihre Kinder „leben durch Licht“. Und da gibt es einen Arzt, der das Ganze unterstützt. Die kriegen also ihre Energie zu allem, was sie so brauchen, durch Licht. Da gibt es einen ärztlichen Kollegen, der das durchaus cool findet und unterstützt. Wie kann man sowohl Patientinnen und Patienten als auch ärztliche Kollegen vor solcher Scharlatanerie bewahren?
Lorenz Grigull: Da hilft nicht unrare alleine. Das, was du ansprichst, ist ja ein Problem oder eine Herausforderung, die es gibt, solange es Menschen gibt und unterschiedliche Meinungen. Das bewegt mich manchmal sehr und manchmal macht es mich ratlos. Da ist unrare.me eine von vielen Antworten, aber grundsätzlich sagt das alte Sprichwort, dass gegen Dummheit kein Kraut gewachsen ist. Dass Bildung der Schlüssel zu vielen Lösungen ist und der wertschätzende Dialog auf Augenhöhe. Wenn jemand Heilung in Licht sucht, dann ist diese Person sehr verzweifelt und hat vorher etwas erlebt. Dass man vielleicht dieses Falsch-Abbiegen auch durch gute Orte wie unrare.me verhindern helfen kann, wäre ein kleiner Beitrag. Es wird es sicherlich nicht auf null reduzieren.
Axel Enninger: Ist trotzdem denkbar, dass man bestimmte Beiträge als unwissenschaftlich sozusagen rausschmeißt? Ich mache jetzt mal ein Beispiel: Zöliakie. Da kriege ich immer wieder mal die Frage, da gibt es so eine Initiative in der Schweiz, man muss nur das Immunsystem „überstimulieren“ durch möglichst viel Vollkornprodukte, und irgendwann „verlernt“ es der Körper. Das ist medizinisch Unsinn, aber es gibt immer wieder Eltern, die sich sozusagen auf diesen Pfad verirren. Wie könnte man solche Dinge verhindern?
Lorenz Grigull: Nur da, wo wir es auch sehen. Also ich hab dir ja skizziert, dass bei unrare der Datenschutz großgeschrieben wird, im Gegensatz zu allen anderen Plattformen, die es gibt. Im 1:1-Chat lesen wir nicht, was die miteinander ausbaldowern. Das ist gut so und das wissen die Nutzenden auch. Und da wir die Inhalte nicht kennen, wird da auch nichts rausgenommen oder als „falsch“ oder „unwissenschaftlich“ markiert. Alle anderen Informationen, die werden zum Teil mitgelesen, zum Teil kontrolliert und/oder es greift das Momentum, dass etwas gemeldet und kontrolliert wird und es dann entsprechend der Disclaimer dahin kommt, so dass man natürlich auch tätig werden kann.
Axel Enninger: Okay. Jetzt hatten wir viel über Patienten und sag ich mal so…
Lorenz Grigull: … Kinder-gastroenterologische Themen…
Forschende verlassen den Elfenbeinturm
Axel Enninger: Genau, klinisch tätige Menschen gesprochen. Drehen wir das Ganze mal um: Grundlagenforscher. Da habe ich auch manchmal den Eindruck, sie forschen so vor sich hin, aber ein Reality Check, der fehlt manchmal ein bisschen. Kann man denen helfen?
Lorenz Grigull: Ja, und das Lustige ist, Axel, denen geht es genauso mies damit. Ich habe auch immer gedacht, sie haben den Kopf so in den Wolken stecken. Warum gehen sie nicht mal zum Patienten? Und ich habe in den letzten anderthalb Jahren über unrare.me gelernt, dass sie zum Teil kreuzunglücklich deswegen sind. Sie haben theoretische Modelle, vielleicht Mausmodelle, und fragen sich, wie sieht es denn im klinischen, humanen Phänotyp aus. Sie haben riesige Lust sich zu vernetzen. Wir sind deshalb sehr froh darüber, dass wir jetzt über die Bardet-Biedl-Syndrom-Gruppe und insgesamt Menschen, die im Labor arbeiten und Interesse haben, Patienten zu finden, in die gleiche Richtung gehen. Also, wir sagen: ‚Hier, ihr seid im Labor und das ist die dazugehörige Patientengruppe. Habt ihr nicht Lust, euch besser zu vernetzen?‘ Beide freuen sich darüber und haben dann ein starkes Win–Win. Wenn es für bestimmte klinische Erscheinungsbilder noch keine wirksamen oder zugelassenen Therapien gibt, sind die Patienten und Patientenvertretungen extrem interessiert zu horchen, was im Labor passiert oder auch Einfluss zu nehmen und zu sagen: ‚Da ist unser Leidensdruck, könnt ihr nicht in diese Richtung in euren Modellen entsprechend schauen?‘
Wie geht es Patienten damit? Patient-reported Outcome erfassen
Axel Enninger: Das wäre ja tatsächlich ein Win–Win, wenn die Patientengruppen sagen könnten: ‚Für uns als Patienten ist das klinisch relevante Thema so und so. Guckt, liebe Grundlagenforscher, das ist auch interessant!‘ Ein anderer Punkt, der in der medizinischen Literatur momentan ganz wichtig ist, sind Patient-reported Outcomes. Das war früher ja nie so richtig in unserem Fokus. Also, wie geht es den Patienten damit und wie empfinden sie ihren Therapieerfolg? Da könnte ich mir auch vorstellen, dass es hilfreich sein könnte, wenn man die Informationen bündelt.
Lorenz Grigull: Ja, ich meine, wir müssen uns an der Stelle alle an die eigene Nase packen, dass es so lange gedauert hat, bis Patient-reported Outcome eine Relevanz bekamen, dafür schäme ich mich. Wir hatten irgendwie Scheuklappen auf. Ich finde es großartig, dass das jetzt mehr in den Fokus rückt. Wir haben eine Tagebuchfunktion bei unrare.me. Sie wird mit dem nächsten Update freigeschaltet werden. Ich möchte weg davon, dass man für jede Erkrankung eine eigene App hat, eine Kopfschmerz-App, eine Regelblutungs-App, eine Fruchtbarkeits-App, eine Augeninnendrucks-App, eine Zahnschmerz-App und so weiter. Sehr nervig und am Ende auch teuer. Wir werden demnächst eine Tagebuchfunktion bei unrare.me freischalten, und dann kann man sehr einfach und niedrigschwellig darüber Patient-reported Outcome dokumentieren.
Axel Enninger: Auch Erfassung von Patientengruppen, quasi Datenerfassung. Wie entwickeln sich Patienten, was weiß ich, Entschuldigung, ich kenne nur Gastro, mit Alpha-1-Antitrypsin-Mangel zum Beispiel. Für solche Dinge gibt es auch eine isolierte App, oder?
Lorenz Grigull: Ja, also Anspruch und Wirklichkeit. Die Alpha-1-Antitrypsin-App von David Katzer und Alexander Weigert und Professor Ganschow ist klasse. Diese Apps und diese Anwendungen, die dazu führen, dass wir ein Register für Krankheiten haben, soll und wird es hoffentlich noch lange geben. Mein Wunsch wäre, das zusammenzuführen. Ein Wunsch kann ja auch sein, dass wir mit unrare helfen, auf die Alpha-1-Antitrypsin-App von dem Bonner Team aufmerksam zu machen, damit sich die Patienten entsprechend registrieren. Ein anderer Effekt wäre auch, voneinander zu lernen. Also das Alpha-1-Antitrypsin-Register ist in der sogenannten RedCap-Technologie, das heißt grundsätzlich modular gedacht. Und warum kann man nicht dann dort, wo Register fehlen, in unrare.me dazu den modularen Baukasten anbieten, damit man für Krankheiten, für die wir keine Zahlen haben, entsprechende Registerstrukturen etablieren kann? Und das Ganze möglichst niedrigschwellig.
Axel Enninger: Noch mal bitte. RedCap-Technologie habe ich noch nie gehört.
Lorenz Grigull: Da ist die Idee dahinter, dass die Software frei verfügbar ist, also dass du die Programmcodes auch nutzen könntest.
Axel Enninger: Okay, jetzt haben wir so ein bisschen historisch geguckt und du hattest erzählt, die Zahlen steigen. Die App verändert sich. Was ist schon eure Perspektive, wo wollt ihr denn hin? Also was – wenn du dir das wünschen dürftest und sagen würdest, die Finanzierung ist gut gesichert – was sind so eure nächsten Ausbaustufen?
Konsiliarangebot ganz einfach, von Patientenregistern träumen
Lorenz Grigull: Ich möchte für unrare.me die Möglichkeit schaffen, dass wir erstens den Punkt, den wir schon sehr ausführlich diskutiert haben, einen schwierigen Patienten niedrigschwellig mit anderen Kollegen austauschen können, an der Bushaltestelle. Ich habe eine Maske, die von Ärztinnen für Ärzte gemacht ist, wo man sagt, ich kann das hier niedrigschwellig eingeben und muss keine Angst davor haben, dass Leute sagen: ‚Hey Grigull, du hast ja echt gar keine Ahnung, schäm dich, dir sollte die Lizenz entzogen werden, ist doch klar, der Patient hat Zöliakie und nichts anderes.‘ Sondern dass man Patienten dort schildern kann und man ein Feedback und Anregungen bekommt, was man machen kann. Also so ein bisschen niedrigschwelliges Konsiliarangebot zwischen Ärztinnen und Ärzten. Ich möchte das Gleiche für Patienten etablieren, die ratsuchend sind, dass sie die Möglichkeit haben, entweder untereinander oder auch von anderen Rat zu bekommen, und zwar ohne Scharlatanerie, sondern unrare.me-geprüft. Ich möchte eine Plattform schaffen, die stärker die „Silos“ aufbricht. Warum reden die Kinder-Gastroenterologen so viel miteinander und sind dann immer die Superexperten untereinander? Warum reden wir so selten miteinander? Das müssen wir aus meiner Sicht ändern. Und ich stelle auch fest, dass die Erwachsenen- und Kinderärzte, Stichwort „Transition“, zu wenig miteinander vernetzt sind. Alle sind so viel mit sich beschäftigt und keiner hat Zeit, in den Dialog zu gehen. Aus meiner Sicht liegt es daran, weil es unbequem ist, weil es sich haptisch nicht gut anfühlt, und das möchte ich mit unrare.me als Zweites ändern. Als Drittes, glaube ich, können wir Erfahrungswissen besser nutzen. Mütter und Väter von chronisch kranken Kindern wissen oft sehr gut, was ihren Kindern gut tut, und dieses Wissen versandet, genauso wie jedes Wissen versandet, wenn Kolleginnen und Kollegen in Rente gehen. Hier so etwas wie – ich will es nicht Museum oder Asservatenkammer nennen – aber, dass man sagt, Erfahrungswissen bleibt verfügbar. Das wäre der dritte Baustein. Und der vierte Baustein ist, die Selbsthilfe stärker sichtbar zu machen. Das sind momentan getrennte Universen, aber der Selbsthilfe ein Gesicht zu geben im Sinne von Auffindbarkeit, von Dialog, von Austausch, dafür fehlt ein geeigneter Ort, und der möchte unrare.me auch werden.
Axel Enninger: Das war jetzt ein wunderbares Schlusswort schon fast, aber du kommst nicht umhin, die Dos und Don’ts, die in diesem Podcast das Dauerelement sind, noch zu beantworten. Also du darfst dir Dinge positiv wünschen oder du darfst auch Dinge sagen, die dich nerven oder wo du sagen würdest: ‚Liebe Kollegen, lasst das jetzt mal sein.‘ Die Reihenfolge bleibt dir überlassen.
Vernetzen, in Dialog gehen, Fragen stellen, Welt ohne blöde Kommentare, dafür mit Augenhöhe
Lorenz Grigull: Okay, also Do: Was du unbedingt machen solltest, ist, dich stärker zu vernetzen. Trau dich! Trau dich, in den Dialog zu gehen, trau dich, vermeintlich doofe Fragen zu stellen. Ich habe das so oft gehört, als ich Student war, und ich dachte immer: ‚Nein, ich frage nichts, ich habe nur doofe Fragen.‘ Und jetzt bin ich 58 und ich liebe jede Frage, ich liebe jede vermeintlich doofe Frage. Ich freue mich, weil man dann sieht, wo die Wissenslücken und Missverständnisse sind. Trau dich, trau dich zu fragen. Und das Don’t: Wehe, du guckst dann hämisch. Wehe, du bist von oben herab. Also ich wünsche mir eine Welt ohne blöde Kommentare, ich wünsche mir eine Welt auf Augenhöhe. Und deswegen das Don’t: Sei höflich, sei wertschätzend, und zwar mit deinen Kolleginnen und Kollegen, egal ob jung oder alt, egal wo sie herkommen. Sei genauso mit deinen Patientinnen und deinen Patienten, wohl wissend, dass wir auch Verständnis dafür haben dürfen, dass jemand mal einen guten oder mal einen schlechten Tag hat – untereinander dann auch verzeihen dürfen.
Axel Enninger: Also das finde ich jetzt ein noch viel besser gelungenes Schlusswort. Vielen herzlichen Dank, lieber Lorenz, sehr schön. Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, vielen herzlichen Dank fürs Zuhören. Wir freuen uns wie immer über Kommentare, wir freuen uns über Lob und Likes, wir freuen uns auch über konstruktive Kritik und natürlich auch über Themenvorschläge und Vorschläge für Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Und wie immer: Bleiben Sie uns gewogen.
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